Reyhan Şahin bekannt unter ihrem Künstlernamen Lady Bitch Ray. Foto: Louis Headlam
Unter dem Pseudonym "Lady Bitch Ray" kämpfte Reyhan Şahin für Selbstbestimmung. 2024 erhielt sie die Diagnose Brustkrebs. Sie spricht offen über ihre Krankheit und das Gesundheitssystem.
Reyhan Sahin wurde 2006 als Lady Bitch Ray bekannt. Sie hat den Begriff „Bitch“ positiv interpretiert. Sie ist aber nicht nur Rapperin, sondern studiert Linguistik und promoviert an der Universität Bremen zur Semiotik des muslimischen Kopftuchs. 2024 erkrankt sie an Brustkrebs.
Reyhan Sahin, diese Frage ist keine Floskel, sondern absolut ernst gemeint: Wie geht es Ihnen?
Dankeschön, mir geht’s gesundheitlich gut. Aber dann gibt es immer wieder so komische Momente. Gestern hatte ich unter der Zunge einen kleinen Knubbel gespürt. Heute ist der weg. Aber man denkt sofort so: „Oh Gott, wächst da wieder was? Ich muss das sofort abchecken lassen.“ Ich habe zudem meine vierteljährlichen Untersuchungen, und kurz vorher bin ich auch wirklich nervös.
Sie sind als Rapperin auch immer eine öffentliche Person gewesen, wie schwierig war es, mit der Krankheit an die Öffentlichkeit zu gehen?
Ich habe nach der Diagnose im letzten Jahr bewusst entschieden, dass ich in so einer verletzlichen Phase nicht in die Öffentlichkeit gehen werde. Reiner Selbstschutz. Weil ich einfach auch weiß, dass es immer wieder Menschen gibt, die einem den Tod wünschen. Das wollte ich in so einer vulnerablen Phase nicht hören! Mir war aber auch von Anfang an klar, dass ich danach an die Öffentlichkeit gehen würde. Ich wusste: wenn ich das heil überstehe, dann werde ich anderen Betroffenen und Angehörigen und potenziell betroffenen Frauen und nicht binären Menschen von meinen Erfahrungen erzählen und Mut machen.
„Als ich erfahren habe, dass ich Brustkrebs habe, wusste ich, dass ich für eine Weile die Kontrolle über meinen Körper abgeben muss.“ Foto: Louis Headlam
2024 wurde bei Ihnen Brustkrebs entdeckt. Wie haben Sie die ersten Minuten nach der Diagnose erlebt?
Das war ganz schlimm. Ich hatte ja einen Knoten in meiner Brust ertastet und bin zum Gynäkologen, den ich gar nicht kannte, weil meine Gynäkologin zu der Zeit in Elternzeit war. Und ich hab noch das Gesicht dieses Mannes vor meinen Augen, der mit dann unverblümt sagte: „Ich glaube, das ist ein bösartiger Tumor“. Schon vor dem Ultraschall hatte ich ein mehr als mulmiges Gefühl. Eine Ärztin sagte mir mal, dass wenn dieses Gefühl von vielen betroffenen Frauen für ihren eigenen Körper nicht wäre, würden sie sowieso nicht so viel diagnostizieren. Mehr als die Hälfte der Brustkrebsfälle werden von den Betroffenen selbst erkannt.
War das Schreiben eines Buches ein Schritt der Verarbeitung?
Auf jeden Fall. Gleichzeitig war es auch Dokumentation für mich selbst. Aber auch Ermutigung für andere Frauen und queere Menschen und die wenigen Männer, die auch Brustkrebs bekommen.
Sie beschreiben sehr detailliert die körperlichen und emotionalen Nebenwirkungen der Chemotherapie. Welche waren für Sie am schwersten zu bewältigen?
Ich hatte schon zwei schwere Depressionen, die ich vor zehn und 20 Jahren erlitten habe. Da hatte ich bereits mit so krassen seelischen Schmerzen zu tun, die auch auf den Körper gegangen sind. Also es war wirklich so ein vice versa. Und während dieser Brustkrebserkrankungsphase hatte ich körperliche Beschwerden, vor allem in der Chemotherapiephase. Aber natürlich auch psychische. Durch meine beiden schweren Depressionen habe ich eine Resilienz entwickelt, um mit diesem Schmerz umzugehen. Doch diese Magenschmerzen, die ich während der Chemotherapie hatte, von Tag 5 bis 12, die möchte ich nicht noch mal haben, die waren unerträglich. Die waren so krass, dass Schmerztabletten nur noch wenig geholfen haben.
Sie thematisieren immer wieder, wie es ist, als Frau, vor allem als sogenanntes Gastarbeiterkind, im deutschen Gesundheitssystem behandelt zu werden. Welche spezifischen Herausforderungen haben Sie erlebt?
Viele von uns, also Kinder von sogenannten „Gastarbeiter:innen“, begleiten unsere Eltern zu Arztbesuchen, weil sie sonst oft nicht ernst genommen werden. Sie sprechen nicht perfekt Deutsch oder wirken anders, und manche Ärzte haben da Vorurteile. Bei meiner Brustkrebs-Erkrankung musste ich mich den Ärztinnen komplett anvertrauen. Anfangs hatte ich Angst, als migrantisierter Mensch schlechter behandelt zu werden. Deshalb habe ich nach anderen Frauen gesucht, die Brustkrebs hatten und auch einen Migrationshintergrund, und ich habe das Buch von Audre Lorde gefunden. Das hat mir gezeigt, wie politisch das Thema Brustkrebs für uns sein kann. Ich habe mich sehr bemüht, dass die Ärztinnen mich wirklich sehen und mich gut behandeln – auch wenn ich krank und verletzlich war.
Als feministische Rapperin haben Sie immer für körperliche Selbstbestimmung gekämpft. Wie hat die Krebserkrankung Ihr Verhältnis zu Ihrem Körper verändert?
Als ich erfahren habe, dass ich Brustkrebs habe, wusste ich, dass ich für eine Weile die Kontrolle über meinen Körper abgeben muss. Ich wusste nicht, ob ich gesund werden würde, und musste vertrauen. Als ich dann sah, dass meine Ärztinnen Frauen waren, war ich erleichtert – das gab mir ein gutes Gefühl. Ich habe versucht, eine freundschaftliche Beziehung zu ihnen aufzubauen, weil ich sonst mit der Situation nicht hätte umgehen können. Die Behandlung hat mein Körperbewusstsein verändert: Ich weiß jetzt, wie vergänglich alles ist, egal wie schön oder sportlich man aussieht. Es geht nicht mehr nur ums Aussehen, sondern ums Überleben und um das, was im Inneren zählt. Ich hatte Glück, dass meine Brust erhalten blieb und ich äußerlich nicht stark verändert wurde. Gleichzeitig weiß ich, dass die Krankheit Spuren hinterlassen hat – an Körper und Seele. Deshalb ist Selbstfürsorge für mich heute noch wichtiger, aber immer auch auf eine rücksichtsvolle Art und Weise gegenüber anderen.
Eine Art der Verarbeitung war das Schreiben dieses Buches.
Selbstfürsorge muss man sich aber auch finanziell leisten können.
Ich hatte zum Glück ein kleines Forschungsstipendium, sonst hätte ich nach der Diagnose und der Chemotherapie gar kein Einkommen gehabt. Einige Veranstaltungen, bei denen ich Geld verdient habe, fielen weg. Mir wurde dadurch noch deutlicher, dass es in Deutschland ein Zweiklassensystem im Gesundheitssystem gibt. Ich hatte aber auch Existenzangst, weil ich keine feste Stelle als Wissenschaftlerin hatte. Zwar hatte ich eine Krankenkasse, aber finanzielle große Sprünge waren nicht drin. Ich konnte mir kleine Dinge leisten, wie Cremes oder Yoga zu Hause, aber eine Massage war erstmal nicht drin. Erst nach meiner Bestrahlungstherapie im Herbst ging das langsam wieder, dass ich Geld verdienen konnte. Mir wurde klar, wie dankbar ich meinem Körper bin, dass ich überhaupt arbeiten und überleben kann. Für Menschen, die so schwer krank sind, dass sie sich nicht selbst versorgen können, tut es mir im Herzen leid. Psychisch ist es sehr schwer, gerade in so einer Phase positiv zu bleiben.
Sie haben als erste Frau im Deutschrap das Wort „Bitch“ etabliert. 2008 haben Sie aufgehört zu rappen. Warum?
Es gab viele Gründe für meine Entscheidung. Alles fing damit an, dass ich durch meine Musik eine Skandalwelle ausgelöst habe. Viele Menschen haben sich an der Universität beschwert und gefordert, dass ich exmatrikuliert werde. Auf der Straße wurde ich bespuckt und angegriffen. Es gab natürlich auch viele positive Reaktionen. Trotzdem wurde ich viel gehasst und bekam sogar Morddrohungen, die ich ernst nehmen musste. Ich wollte zwar als Künstlerin bekannt werden, aber das ging so weit, dass ich meinen Job als Journalistin bei Radio Bremen verlor. Auch meine wissenschaftliche Karriere war gefährdet, weil sich ständig Leute beschwerten. Der Dekan musste sogar öffentlich Stellung beziehen. Ich wurde nur auf das Sexuelle reduziert, meine feministischen Botschaften wurden damals kaum gesehen. Es gab kaum feministische Communities, die mich unterstützt haben. Schließlich musste ich eine Entscheidung treffen – und das, während ich schwer krank war und unter Depressionen litt. In der Klinik sagte mir der Chefarzt: „Frau Şahin, Sie müssen sich entscheiden. Links ist Ihre Karriere, viel Geld, Erfolg und Ruhm – aber Sie könnten daran zugrunde gehen. Rechts ist Ihre Genesung, Psychotherapie und der Weg zu sich selbst.“ Diese Entscheidung konnte mir niemand abnehmen. Ich habe es damals Karriere-Pause genannt, aber ich habe mich für die Wissenschaft entschieden.
Zur Person Reyhan Şahin, auch bekannt als Lady Bitch Ray, ist eine deutsche Künstlerin, Aktivistin und Autorin. Sie wurde in Bremen geboren und ist promovierte Sprach-, Migrations-, Islam- und Rassismusforscherin. Ihr 2025 erschienenes Buch „Amazonenbrüste – Wie ich den Brustkrebs bekämpfte“ (Tropen Verlag) beschreibt ihre persönliche Reise mit Brustkrebs, den Kampf gegen die Krankheit und ihre Auseinandersetzung mit Körper, Weiblichkeit und Selbstbestimmung.
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