Die Stuttgarter Autorin Petra Brixel erforscht den kurzen, aber ungewöhnlichen Lebensweg ihrer Großtante Sofie Benz in der Biografie „Glück ist Leid“
Unter der Überschrift „Mysteriöser Selbstmord“ meldete die Tessiner Zeitung am 4. März 1911, dass in Ascona „eine deutsche Dame unter den Anzeichen schwerer Coceinvergiftung erkrankt“ sei, und „in hoffnungslosem Zustand ins Spital von Locarno gebracht wurde und zwei Tage später hier verstorben“ sei. „Diese deutsche Dame war meine Großtante Sofie Benz, die 1884 im württembergischen Ellwangen geboren worden war und nur 27 Jahre alt wurde“, erzählt Petra Brixel. Die Stuttgarterin hat den kurzen, aber ungewöhnlichen Lebensweg von Sofie Benz in der Biografie mit dem Titel „Glück ist Leid“ dokumentiert. Über ihren mysteriösen Suizid sei in Romanen von Leonhard Frank und Franz Jung und anderen Publikationen geschrieben worden. „Sie wurde definiert über die bekannten Männer in ihrem Leben. Da war es mir ein Anliegen, Sofie wieder ein ganzes Leben zu geben und vieles gerade zu rücken.“
Aufwendige Recherche in Archiven
Spurensuche in der eigenen Familie ist zurzeit ein populäres literarisches Thema. Oft in Form eines auf Tatsachen beruhenden Romans. Petra Brixel hat sich für eine Biografie entschieden und dafür fünf Jahre lang in Archiven, Bibliotheken, Kirchenbüchern, Bergen von Sekundärliteratur, Gesprächen mit Wissenschaftlern und von Ellwangen bis Ascona recherchiert. „Man beginnt ein Projekt und dann ufert es aus“, erläutert die 76-jährige. „Und ich war Lehrerin“, erklärt sie lachend ihre Gründlichkeit. Langeweile ist in ihrem Unterricht, zuletzt an der Bachschule in Feuerbach und in den 80ern als Entwicklungshelferin im Jemen, sicher nie aufgekommen. Denn die Frau, deren Erzählfluss kaum zu stoppen ist, hat auch viel zu erzählen. Lebendig, farbig, emphatisch. Vor allem, wenn sie von einer Geschichte so erfüllt und persönlich berührt ist wie der von ihrer Großtante Sofie Benz.
Das Foto der jungen Sofie auf dem Titel des Buches ist unscharf. Umso genauer sind die Konturen, die Petra Brixel deren Persönlichkeit verleihen kann. Dank einem Konvolut von 75 Briefen Sofies an die ältere Schwester Emilie, Dokumenten und Bildern, das in der Familie gehütet wurde. „Immer wieder wurde von Sofie erzählt, ich bin praktisch mit ihr aufgewachsen“, sagt die Autorin. Den Impuls, sich mit der Großtante gründlich zu beschäftigen, lieferte der Filmemacher Sönke Held, der sie für ein Projekt um einen kurzen Bericht über Sofie Benz bat. „Ich könnte ein Buch über sie schreiben“, hatte sie erwidert. „Dann schreiben Sie es doch“, sagte er.
Großtante erlebt die Bohème
Sofie Benz ist 18, als sie die Provinz verließ, um in München an einer privaten Malschule zu studieren. Der Vater August Benz, Lehrer und Kunstmaler in Ellwangen, hatte sein künstlerisches Talent an seine Töchter Emilie und Sofie weitergegeben. Sie wohnt in Schwabing, dessen Ruf als Ort besonderer Freizügigkeit der Mutter in Ellwangen große Sorgen bereitet, sie erlebt die Bohème, lernt Künstler und Literaten kennen, hat kaum Geld und erste Anzeichen depressiver Verstimmung. Einer Freundin folgt sie 1906 nach Ascona. „Ascona“, schreibt Petra Brixel, „ist Anfang des 20. Jahrhunderts Lebenselixier für Literaten, Maler und Lebensreformer. Ascona wird Sofies Schicksalsort.“ Sie geht eine Liebesbeziehung mit dem späteren Schriftsteller Leonhard Frank ein und gerät in den Einfluss von Otto Gross, Psychoanalytiker, Freud-Schüler, drogenabhängig und Verfechter der freien Liebe. Die sexuelle Entfaltung ist Teil seiner Therapie. Sofie ist seine Geliebte, als bei ihr 1910 eine Psychose mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen ausbricht. Am 1. März 1911 nimmt sie im Beisein von Gross eine Überdosis Kokain. Er ist der einzige Zeuge des Suizids. Eine Tragödie. Und bis heute mysteriös.
Faszinierendes Kolorit der Zeit
Die Autorin ist tief eingetaucht in die irrlichternde Szenerie der neuen Freiheit und Libertinage und hat damit ein faszinierendes Kolorit der Zeit und ihrer Zeugen geschaffen. „Ein Projekt gebiert das nächste“, kündigt Petra Brixel an: Sie will über Sofies Vater August und dann über den eigenen Vater schreiben, der auf zwölf Kassetten über sein Leben berichtet hat. Familienbewusstsein und der Blick in die Vergangenheit, „wer bin ich, wo komme ich her?“, sei ihr wichtig, sagt die gebürtige Bremerin, die vor mehr als 50 Jahren aus Liebe zu den Bergen in den Süden gezogen ist. In ihrem Elternhaus sei alles aufbewahrt worden. Eine Sammlerin und Hüterin der Erinnerungen ist auch sie: Aus dem Jemen, über den sie mit ihrem Mann Gerd Simper, Ingenieur, Politologe und passionierter Hobby-Vulkanologe, einen Reiseführer geschrieben hat, hat sie nicht nur eine Kollektion jemenitischer Trachten mitgebracht, ein Stück orientalischer Lebensart prägt auch die Wohnung in Feuerbach. Und Belege für große Wanderungen und bezwungene Gipfel bis hin zu Viertausendern, dekorativ an der Wand installiert, bewahren vor Erinnerungslücken. Es klinge zwar ein bisschen pathetisch, meint Petra Brixel, aber für sie seien diese Zeugnisse „Ausdruck der Wertschätzung des eigenen Lebens“.
Petra Brixel: „Glück ist Leid - Spurensuche auf dem Lebensweg von Sofie Benz“, erschienenen im Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg an der Lahn, 529 Seiten, 32 Euro, ISBN 978 3-936134-91-9, erhältlich im Buchhandel oder im Verlag anz.@transmit.de