Nach 116 Stadtspaziergängen hat nun die Stiftung Geißstraße das Buch zur Reihe am Kultur Kiosk präsentiert. Es heißt „Spazieren in Stuttgart“.

Stuttgart - Wortkünstler Timo Brunke rezitiert auf dem Schillerplatz. Europa-Expertin Stefanie Woite-Wehle erzählt von Stuttgart und der Welt. Kabarettist Michael Gaedt gestikuliert am Hans-im-Glück-Brunnen. Fotos, die von den Stadtspaziergängen der Stiftung Geißstraße in Kooperation mit der Stuttgarter Zeitung zeugen. Kai Loges hat sie aufgenommen, nun werden sie an Sara Dahmes Kultur Kiosk im Parkhaus Züblin projiziert. Dort präsentiert Michael Kienzle, Geschäftsführender Vorstand der Stiftung Geißstraße, das Buch „Spazieren in Stuttgart“. Ein literarisches Pendant zu den insgesamt 116 Stadtspaziergängen, auf denen prominente und weniger prominente Bürgerinnen und Bürger, Forschende, Amtsinhabende Interessierten „ihr“ Stuttgart zeigten, mit Blick auf Europa, Städtebau, Zukunft, Architektur, Historie, Literatur, Stadtbäume, Drehorte, Kunst, Theater, Statistik, Sicherheit.

 

Akteure arbeiten für „Gotteslohn“

Für den Band brachten 23 Stadtakteure ihre Gedanken und Beobachtungen auf Papier – von Jörg Aldinger, Thomas Borgmann und Hans D. Christ über Brigitte Dethier, Marc Gegenfurtner, Peter Grohmann und Irene Ferchl bis Dirk Mende, Michael Propfe mit Friedrich Schirmer, Wolfgang Schuster und Hermann Steinfest. „Für Gotteslohn“, so Kienzle. Drei lasen vor dem Kultur Kiosk, eingebettet in Klezmer- und Tangoklänge, die Wilma Heuken ihrem Akkordeon entlockte.

Warum ist die dritte Gewalt vergleichsweise wenig präsent im Stadtbild?

In „Von draußen nach drinnen“ kategorisierte etwa Irene Armbruster, Geschäftsführerin der Bürgerstiftung Stuttgart, in ihrem „Corona-Rückzug“ Spazierende: Aus dem Schaufenster ihres 40-Quadratmeter-Büros im Leonhardsviertel blickend entdeckte die „Spaziergangsforscherin“ Joggende, Väter mit Kindern, alte Männer, Menschen „mit Auftrag“ oder „Ich-und-mein-Hund“. Und weil die „grauen Flächen“ des Züblin wie „Energiestaubsauger“ wirken, schaffte sie ein Fantasie-Paradies: „Farne, Palmen, Sonnenblumen, Glyzinien und Rosen ranken sich um die Beton-Pfeiler“, bevor Feuerwehrsirenen die Realität signalisieren.

Der Rechtsanwalt Roland Kugler fragte in „Von Rechts-Wegen“, warum die dritte Gewalt weniger präsent im Stuttgarter Stadtbild ist als die erste und zweite. „Republikanische Bescheidenheit?“ Wird die Judikative von jenen, die sie kontrollieren soll, also Exekutive und Legislative, finanziell und städtebaulich bewusst kurzgehalten? Wie kann sich der Rechtsstaat zeigen, „ohne in architektonisches Pathos des 19. Jahrhunderts zu verfallen“?

„Geschichte ist Gegenwart“, sagt Kolumnist Joe Bauer

Kolumnist und Flanier-Urgestein Joe Bauer indes „erging“ im „Gedankenspringer“ in der „neoliberalen Marketing-Demokratie“ Straßen mit unbekannten Nachnamen, entdeckte Familien, die vor den Nazis nach Kalifornien flohen. Die „politischen Nachkommen der Nazis“ säßen wieder in den Parlamenten vor der Haustür, so Bauer. „Geschichte ist nicht Vergangenheit. Geschichte ist Gegenwart.“ Beim Gehen gehe es auch um Gesundheit und Verstand, der sich vor einem „gesunden Menschenverstand“ schützen müsse. In einer Stadt, in der Stadtplaner vor „den Automobilmanagern und den Immobilienhaien“ bedingungslos kapitulierten und Fußgänger „mehrfach Diskriminierte“ seien, laute sein Mantra, das ihn zu Protestmärschen treibe: „Lieber zu weit gehen als gar nicht.“