Aris Fioretos erzählt in „Nelly B.s Herz“ die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau im Berlin der zwanziger Jahre.

Stuttgart - Kaum etwas haben sie von ihrer Faszination verloren, die vermeintlich goldenen Zwanzigerjahre. Durch den Erfolg der TV-Serie „Babylon Berlin“ befeuert, erleben sie derzeit eine Renaissance – als Epoche, in der sich durch eminente technische und politische Umwälzungen vielerorts die Vision eines „neuen Menschen“ ankündigte. Der schwedische Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Autor Aris Fioretos ist in diesem Jahrzehnt bestens zu Hause und zeichnet in seinem neuen Roman ein vielschichtiges, ungewöhnliches Porträt dieser Zeit.

 

Wie Fioretos in einer Nachbemerkung erläutert, legt er seiner Hauptfigur Nelly B(ecker) ein historisches Modell zugrunde, ohne dass er die Absicht verfolgen würde, einen biografischen Roman im engeren Sinn zu schreiben. Inspiration war ihm der Lebenslauf der 1886 geborenen Melli Beese, die sich dadurch in die Luftfahrtgeschichte einschrieb, dass sie 1911 als erste Frau in Deutschland die Flugzeugführerlizenz erhielt und danach am Berliner Motorflugplatz Johannisthal eine Flugschule gründete. Die Ehe mit einem Franzosen, ihrem Geschäftspartner Charles Boutard, machte sie nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zur „feindlichen Ausländerin“, sodass sie ihr Unternehmen nicht fortführen konnte. Vergeblich kämpfte sie nach dem Krieg um Entschädigung und Rehabilitierung. Im Dezember 1925 nahm sich die herzkranke, morphiumabhängige Melli Beese in Berlin das Leben.

Aris Fioretos orientiert sich an den Eckdaten dieser Biografie und macht es sich zugleich zunutze, dass über Beeses letzte Lebensjahre wenig bekannt ist. Seine Protagonistin Nelly erscheint als eine technikbegeisterte, vom Fliegen beseelte Frau, die bei einer Autofirma Anstellung findet, sich von ihrem Mann Paul trennt und in eine typische, von der Witwe eines Getreidehändlers betriebenen Berliner Pension zieht.

Verlockende und bedrohliche Metropole

So facettenreich Fioretos den Pensionsalltag skizziert, wo unterschiedlichste Schicksale und Nationalitäten aufeinandertreffen, so unübersehbar ist, dass diese Episoden eher ein retardierendes Moment darstellen. Denn worum es im Kern geht, ist Nellys Liebe zu einer Frau, zu der vierzehn Jahre jüngeren Irma Maak. Diese arbeitet in einer Werbeagentur und bildet in vielerlei Hinsicht einen Gegenpol zur ordnungsliebenden, ans „Funktionieren“ glaubenden Nelly. Beide lassen sich auf eine – klandestine – Liebesbeziehung ein, die Nelly ungeahnte sexuelle Erfahrungen beschert. Es ist Fioretos’ Stärke, die Annäherung der beiden Frauen, Irmas Sprunghaftigkeit, Nellys Ängste, Eifersuchtsattacken und Versuche, Ehemann Paul als Freund zu behalten, behutsam zu schildern und bis in feinste Nuancen hinein zu verfolgen.

Angeschlagen wird in diesem aus einhundert kurzen Kapiteln bestehenden, zwischen Präteritum und Präsens wechselnden Roman ein hoher Ton, der sich mitunter in zu ausführlichen Beschreibungen ergeht und vor überflüssigem Pathos nicht ganz gefeit ist. Wie Fioretos freilich in „Nelly B.s Herz“ das so Beeseverlockende wie bedrohliche Berlin der Partys, der Filme, neuen Musikstile und Drogen einfängt und wie subtil er das allmähliche Zugrundegehen seiner Heldin schildert, das ist literarisch aller Ehren wert. Und nicht zuletzt lohnt sich die Lektüre allein wegen jener Passagen, in denen Nelly kurz vor ihrem Tod sich und ihrer Geliebten einen Traum erfüllt und beide Richtung Polen zu einem fast fatal endenden Flug aufbrechen. „Eine Heimkehr lässt sich anders gestalten, aber kaum besser“, heißt es da, als das ungleiche Paar am Horizont sein Berlin schimmern sieht.

Aris Fioretos: Nelly B.s Herz. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2020. 333 Seiten, 24 Euro