Zwischen Seifenoper und schwarzer Romantik: Michael Köhlmeiers Familienroman „Bruder und Schwester Lenobel“ erzählt von Glanz und Elend des Wiener Bildungsbürgertums.

Stuttgart - Brüderchen und Schwesterchen“ heißt ein Märchen der Brüder Grimm. In Michael Köhlmeiers neuem Roman „Bruder und Schwester Lenobel“ wird an einer Stelle nicht ganz zufällig darauf angespielt. Denn der Roman ist so gebaut, dass jedem seiner dreizehn Kapitel ein Märchen vorangestellt ist. Freilich eines von jener dunklen, grausamen, politisch unkorrekten Art, die auch den von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen eigen war, bevor sie unter den redaktionellen Eingriffen der beiden Bearbeiter geglättet wurden.

 

Der Verfasser dieser Märchen, so erfahren wir im Verlauf des Romans, ist der Wiener Schriftsteller Sebastian Lukasser, den einige Leser vielleicht schon aus früheren Büchern von Michael Köhlmeier kennen. Er ist eine der vier Hauptfiguren im neuen Roman, gewissermaßen der Joker, der immer zur Stelle ist, wenn bei den drei anderen Not am Mann ist. Er ist der Vertraute, Beichtvater, Hausfreund oder Geliebte, bei dem sie in ihren Lebenskrisen Halt suchen, und wer will, kann in ihm ein Alter Ego des Autors Michael Köhlmeier sehen.

Die Geschwister Robert und Jetti Lenobel stammen aus dem jüdischen Wiener Bildungsbürgertum. Ihre Familie hat eine Vergangenheit, die kurz zusammengefasst so lautet: „Sie waren allein auf der Welt. Mama tot. Papa nie gekannt. Oma in Auschwitz-Birkenau ermordet. Opa verschollen, wahrscheinlich in Birkenau oder Treblinka oder Majdanek. Anderer Opa 1967 in Israel gestorben, andere Oma 1967 in Israel gestorben.“ Doch Brüderchen und Schwesterchen haben aus dieser Ausgangslage das Beste gemacht. Robert ist Psychoanalytiker mit einer gut gehenden Praxis im Zentrum von Wien, hat mit Hanna eine ihm ebenbürtige intellektuelle Frau geheiratet und einen Sohn und eine Tochter gezeugt.

Die Midlife-Crisis schlägt zu

Seine sechs Jahre jüngere bildhübsche Schwester Jetti dagegen ist immer noch auf der Suche nach dem „Richtigen“. Während ihr Bruder und seine Frau bürgerliche Solidität wie aus dem Bilderbuch verkörpern und Wien höchstens zur Sommerfrische im Waldviertel verlassen, hat Jetti einen Lover nach dem anderen und nacheinander jeweils für einige Jahre in München, Bologna, Triest, Amsterdam und London gelebt, ohne sesshaft zu werden. Schon als Teenager erwies sie sich als die Lebens- und Geschäftstüchtigere der beiden Geschwister; als der Roman einsetzt, betreibt sie in Dublin als Chefin eine Agentur, die sich auf die Organisation von Kulturprojekten spezialisiert hat. In der irischen Hauptstadt hat sie gleich zwei Männer an der Hand: einen verheirateten Handwerksmeister, der gut im Bett ist, und einen jungen arbeitslosen Schönling, der sich von ihr aushalten lässt.

Doch dann schlägt bei Robert plötzlich die Midlife-Crisis zu. Er verliebt sich in eine Patientin und fängt mit ihr eine Affäre an, bricht diese aber nach wenigen Monaten wieder ab und gesteht alles verzweifelt seinem Freund Sebastian. Bald darauf ist Robert verschwunden, und seine Frau Hanna bittet Jetti, aus Dublin nach Wien zu kommen, um ihr in dieser schwierigen Situation beizustehen. Schnell wird deutlich, dass Jetti und Hanna sich nicht verstehen; Jetti nimmt Reißaus und findet Unterschlupf in der Altbauwohnung des Schriftstellers Sebastian. Ist er vielleicht der „Richtige“ für sie?

Das hört sich nach Seifenoper an. Aber wahrscheinlich besteht der Unterschied zwischen einer Vorabendserie im Fernsehen, einem Grimm’schen Märchen und einem zeitgenössischen Roman nicht in der Story, sondern in der Form, in der jeweils erzählt wird. Köhlmeiers Wiener Familienroman spielt in einem intellektuellen bürgerlichen Milieu. Dieses Milieu schlägt sich im Ton nieder, in dem Köhlmeier die Probleme seiner Figuren vor dem Leser ausbreitet. Der 1949 in Vorarlberg geborene Schriftsteller, der heute abwechselnd in seiner Heimat und in Wien lebt, verleugnet nicht die österreichische Tradition der Seelenzergliederung in der Nachfolge von Hofmannsthal, Schnitzler, Freud oder Musil. Seine Sprache ist angereichert mit Austriazismen, die dem Buch eine spezielle lokale Farbe geben: Tuchent, Lurch, Krampus. Und wer einen Stadtplan von Wien zur Hand hat, kann dort die Topografie des Romans zwischen Hofburg, Heldenplatz, Augarten, Votivkirche, Naschmarkt, Hotel Imperial, Donaukanal, Lainzer Tiergarten und Prater mit dem Finger abschreiten.

Auch die Millennials haben ihren Auftritt

Die Intellektualität, mit der Dr. Robert Lenobel und seine Frau Hanna ihre Umwelt beeindrucken oder einschüchtern, ist aber auch ein Fluch. Denken sei das Entsetzlichste, was die Evolution hervorgebracht habe, gesteht Robert einmal seiner Schwester. Der Intellektuelle sehnt sich nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit, der professionelle Seelenzergliederer, der seinen Patienten Hilfe anbieten soll, kommt plötzlich selbst mit dem Leben nicht mehr zurecht. „Die Welt zu sehen wie ein Neugeborener mit dem ersten Blick; oder wie ein Sterbender mit dem letzten . . .“ – das wäre das richtige Leben.

In den letzten Kapiteln des Romans hat dann noch die Generation der Millennials ihren Auftritt, die sich beruflich und privat im Prekariat eingerichtet hat: Roberts und Hannas knapp dreißigjähriger Sohn Hanno, der nach abgebrochenen Studienversuchen im Burgenland in einer Gärtnerei arbeitet und sich nicht zwischen Homo- und Heterosexualität entscheiden kann. Anders als im Grimm’schen Märchen gibt es bei Köhlmeier kein Happy End, die verschiedenen Fäden werden nicht zum finalen Knoten zusammengebunden. Das kann man bedauern oder als ehrliche Zeitdiagnose akzeptieren.