Kriege enden nie: Mit seinem „Englischen Patienten“ ist dem kanadischen Autor Michael Ondaatje ein Welterfolg gelungen. Sein neuer Roman spielt in der Nachkriegszeit und leuchtet den ungewöhnlichen Verlauf einer Kindheit aus.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eltern, die ihre Kinder von einem Tag auf den anderen verlassen und zweifelhaften Gestalten aussetzen, findet man im Märchen. „Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.“ Mit diesem lapidaren und zugleich ungeheuerlichen Satz beginnt Michael Ondaatjes neuer Roman „Kriegslicht“. Was er eröffnet, wird man kaum ein Märchen nennen können. Doch lebt die Geschichte, die der große kanadische Autor aus dem initialen Bruchstück einer familiären Katastrophe entfaltet, von einem eigentümlichen Verschleifen der Grenzen zwischen Jugend und Erwachsensein, zwischen Wahrheit und Täuschung, Krieg und Frieden, Erinnerung und Gegenwart, Fantasie und Wirklichkeit. Aber vielleicht ist entfalten überhaupt der falsche Ausdruck für den somnambulen Zug, in dem der Leser durch ein verwirrendes Zwischenreich geleitet wird. „Die meisten großen Schlachten werden in den Falten von Landkarten ausgetragen“, ist als Motto dieser Kartografierung des Ungewissen vorangestellt.

 

Im schummrigen Schein wechselnder Lichtquellen leuchtet der Ich-Erzähler die Falten einer Lebenswildnis aus, in die er durch jenen ersten Satz gestoßen wurde. Wer sind die Leute, denen die abwesenden Eltern ihre beiden Kinder anvertraut haben, und die sich nun in dem Londoner Haus der Familie ausbreiten? Und wohin sind die Eltern verschwunden? Angeblich sollte der Vater eine Firmenzentrale in Asien übernehmen, doch irgendwann, lange nach der Abreise, stoßen die Kinder Nathaniel und Rachel auf den gepackten Koffer der Mutter. In den Kulissen einer bürgerlichen Familie öffnen sich mit einem Mal verborgene Türen in ein anderes, bisher unbekanntes Leben, das mit dem eben zu Ende gegangenen Krieg zu tun hat. Aber „Kriege enden nie, sie bleiben nie in der Vergangenheit zurück“, heißt es einmal. Hat das Verschwinden der Mutter mit geheimen Operationen gegen die deutsche Invasion zu tun? Und wer trachtet den beiden in einer kleinkriminellen Ersatzfamilie untergeschlüpften Kindern nach dem Leben?

Zwischen Schutzengel und Halbwelt

Vom Ende her lassen sich diese Fragen leicht beantworten. Aber ihr existenzielles Gewicht behaupten sie im flackernden Hell-Dunkel der Ungewissheit. Nathaniel, dem Erzähler, ist es, als schriebe er mit Kerzenlicht und könne nicht sehen, was im Dunkel jenseits der Bewegungen seines Stifts geschieht. Und wenn sich etwas gegen diesen Roman einwenden ließe, dann vielleicht, dass seiner rätselhaft verwinkelten Anlage zu viel Helligkeit, wie sie notwendig vom Ausgang hereinströmt, nicht guttut. Im Zwielicht aber ist er ganz in seinem Element. Das große Ganze verschwimmt, umso markanter treten einzelne Details hervor.

Man begegnet vom Gaslicht erhellten Gesichtern, geheimnisvoll zwischen Schutzengel und Halbwelt changierenden Gestalten, einer Welt der Illegalität, mehr magisch als gefährlich. Es ist eine schwebende Zeit des Übergangs, der Orientierungslosigkeit, noch fehlen in manchen Gegenden die vor dem Feind entfernten Wegweiser. Menschen tragen Decknamen. Nathaniels Schwester wird Schauspielerin, er selbst kommt sich vor wie eine Raupe, die in heikler Balance die Farbe wechselt, wenn sie von Blatt zu Blatt kriecht.

Von Job zu Job hangelt er sich durch vom Krieg aufgerissene Lebensräume ungeklärter Bestimmung. Als Liftboy eines Hotels hilft er bei der Befreiung von Kunstwerken, die vor deutschen Bomben in unterirdischen Depots in Sicherheit gebracht wurden: nackte Statuen, mit Pfeilen gespickte Heilige, die im Lastenaufzug auffuhren, als wollten sie sich beim Empfang melden. Er schmuggelt Windhunde für verbotene Hunderennen, die, wenn er sich mit einer jungen Frau in leer stehenden Geisterhäusern trifft, ihre langen Schnauzen warm an die nackten Herzen der Liebenden stoßen.

Leben auf schwankendem Grund

Die Schrecken und ungeheuren Verbrechen des Kriegs ragen nur von fern in den dämmrigen Innenraum des Romans hinein, Aktionen, an denen Nathaniels Mutter an der Seite des britischen Geheimdiensts beteiligt war, und ihre späten Folgen. „Menschen, die die politische Gewalt überlebt haben, nehmen die Bürde der Rache auf sich“, ist so ein Satz einer kaum näher ausgeführten Geschichte, die Nathaniel auf die Spur des ungewöhnlichen Verlaufs seiner Kindheit bringt. Als Erwachsener landet er im Archiv desselben Amtes, für das seine Mutter tätig war. Aus Fragmenten und Bruchstücken setzt er etwas zusammen, das nicht in Gewissheit terminiert, sondern das Daseinsgefühl einer radikalen Verunsicherung bezeugt, eines Lebens auf schwankendem Grund. Das ausgesparte Politische des Kriegs kehrt darin in einer grundlegenderen Form wieder.

Die gleitenden Perspektiven, die behutsame Beweglichkeit, das Tasten sind Eigenschaften des Erzählens, wie man sie aus Ondaatjes „Englischem Patienten“ kennt. Für die Weise, wie er darin die Schicksale eines Wüstenforschers, einer kanadischen Krankenschwester, eines Diebes und eines Bombenentschärfers in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in einer italienischen Villa zusammenführt, wurde ihm jüngst der goldene Man-Booker-Preis verliehen, als bestem je mit der begehrten Trophäe ausgezeichnetem Roman.

In „Kriegslicht“ finden gefährliche Liebschaften ebenso zueinander wie weit auseinanderliegende Gattungen, Artus-Legende, Gespenstergeschichte, Agentenroman und Schauermärchen. Man kann in unersättlichem Neuigkeitenhunger die Wiederkehr von Themen und Verfahren nun beklagen. Man kann darin jedoch auch eine Vertiefung und Beglaubigung einer Literatur und Leben umschließenden Haltung sehen. Eine Bestätigung dafür, dass die Vergangenheit noch längst nicht zu Ende ist und dass, um zu erfahren, wer wir sind, nichts anderes bleibt, als ihre Trümmer immer wieder neu zu ordnen.

Der Autor ist mit seinem Roman am 18. September im Literaturhaus Stuttgart zu Gast.

Michael Ondaatje: Kriegslicht.Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube. Hanser-Verlag. 320 Seiten, 24 Euro.