María Cecilia Barbetta verteidigt das Leben gegen die Geschichte: Ihr Roman „Nachtleuchten“ spielt am Vorabend der argentinischen Militärdiktatur.

Stuttgart - Am Anfang ist der Schock. Die elfjährige Teresa Gianelli muss erfahren, dass ein kleines Brüderchen unterwegs ist. Angesichts des dräuenden neuen Lebens fällt die Klosterschülerin zwei folgenreiche Entscheidungen: Sie wird dem Vorbild ihrer Lieblingslehrerin Soeur María folgen und den Schleier nehmen, und sie wird – entsprechend den Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils – „die Kirche zu den Menschen bringen“. „Die Kirche“ hat die Gestalt eines Wallfahrtssouvenirs: einer bei Nacht grün leuchtenden Madonnenstatuette, die sie mit sanftem Zwang bei ausgewählten Nachbarn auf Zeit einquartiert.

 

Mit der altklugen Teresa und ihrer fluoreszierenden Wandermuttergottes öffnet „Nachtleuchten“, der zweite Roman von María Cecilia Barbetta, die Türen des vorstädtischen Quartiers Ballester bei Buenos Aires, die der kleinen Leute wie die der Wohlhabenden, zum Arzthaushalt der Gianellos, zur „Panaderia La Libertad“ und zum Friseursalon „Ewige Schönheit“ zweier glühender Evita-Perón-Verehrer. Vor allem aber mischen sie sich unter die Belegschaft der Kfz-Werkstatt „Autopia“: Sie gesellen sich zum lebensklugen und handwerkerstolzen Besitzer Julio El Haddad, den die Autorin nach dem Vorbild ihres eigenen Großvaters geformt hat; zum schüchternen Saberio, der so schön die traurig-kitschigen Boleros von Tony Tormenta (seinem unehelichen Vater) singt, dass die unausgefüllte reiche Anwaltsgattin Lara Viamonte Rey in Liebe zu ihm entbrennt; zu Álvaro Fatini, der nicht nur mit Autoteilen hantiert, sondern auch mit Wörtern und das Lokalblatt „ballester anzeiger“ wiederbelebt – in konsequenter Kleinschreibung. Mit der Vespa der jungen Nonne María knattern sie ins Armenviertel und zur Volksküche eines befreiungstheologisch inspirierten Priesters, mit dem schwulen Friseur Celio stolpern sie in einen Geheimbund spiritistischer Spinner mit Kontakten in höchste Kreise, und mit den auffallend vielen Kindern dieses Romans kommen sie den Abgründen und Geheimnissen der Erwachsenen auf die Spur.

Rückkehr in die Kindheit

Über all dem kann man fast vergessen, was sich derweil – wir schreiben das Jahr 1975 – über Argentinien zusammenbraut. Aber nur fast . . . Die kleine Welt von Ballester bejubelt die triumphale Rückkehr des charismatischen Präsidenten Juan Perón aus dem Exil und betrauert mit den staatlichen Radiokanälen seinen bald folgenden Tod, nimmt befremdet die Machtübernahme seiner ferngesteuerten Witwe Isabel zur Kenntnis, diskutiert erregt die Kämpfe zwischen linker Guerilla und rechten Paramilitärs, bekommt die Übergriffe tumb-bösartiger Polizisten zu spüren. Und kann sich doch nicht vorstellen, was kurz darauf passieren wird, nach Ende des Romans: die Militärdiktatur mit ihren Tausenden von Gefolterten, Toten und „Verschwundenen“.

Die seit den neunziger Jahren in Berlin lebende und deutsch schreibende María Cecilia Barbetta kehrt mit „Nachtleuchten“ in die eigene argentinische Kindheit in Ballester zurück. Zehn Jahre nach ihrem ersten Roman „Änderungsschneiderei Los Milagros“ verblüfft sie wieder mit ihrer so lust- wie kunstvollen Adaption der deutschen Sprache (und wärmt die Herzen mit der Erinnerung ans italienische Erbe im argentinischen Spanisch). Schnitt sie in der „Änderungsschneiderei“ einen fantastisch glänzenden Stoff nach strengem Muster zu, projiziert sie nun unterschiedliche Figuren auf einen durchscheinenden Vorhang.

Durch die Projektionsfläche von Barbettas zuweilen überblumigen, auch mystifizierenden Schilderungen scheint allerdings ein handwerklich ambitioniertes Gerüst aus Zahlenmystik, Anspielungen und Referenzen. Eine davon ist der argentinische Comicautor Héctor Oesterheld, dem das Literaturhaus Stuttgart vor zwei Jahren eine Aufsehen erregende Wanderausstellung widmete. Aber anders als Oesterhelds Zyklus „Eternauta“ ist „Nachtleuchten“ keine seismografisch-prophetische Vision des Kommenden. María Cecilia Barbetta unternimmt vielmehr den Versuch, den Basiliskenblick der Geschichte zu bannen, den versteinerten Schrecken zu durchbrechen, um das Davor wieder zum Leben zu erwecken. Und sei es als Geisterbeschwörung.

María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 528 Seiten, 24 Euro.