Zehn Jahre nach Helmut Palmers Tod nähert sich ein Geschichtswissenschaftler dem Remstalrebellen in einem Buch an. Der streitbare Nonkonformist sei ein Prüfstein für andere gewesen und habe Wahlen oft erst möglich gemacht.
Schorndorf - Er hat bei rund 300 Wahlkämpfen kandidiert, wurde in 70 Gerichtsverfahren 33 Mal verurteilt. Manche haben ihn bewundert, andere belächelt, nicht wenige ihn verflucht. Obstbauexperte, parteiloser Politiker, Provokateur, begnadeter Rhetoriker, Bürgerrechtler, Aktionist, radikaler Demokrat, Querulant – der schillernden Persönlichkeit Helmut Palmer eine feste Kategorie zuzuordnen, wäre wie Uli Hoeneß lediglich als Ex-FC-Bayern-Präsidenten zu bezeichnen. Zehn Jahre nach Palmers Tod versucht ein auf einer Doktorarbeit basierendes Buch, sich dem Leben und Wirken des Remstalrebellen auf wissenschaftliche Weise zu nähern.
Palmer nur einmal selbst live erlebt
Der Autor, Jan Knauer, ist in Grunbach aufgewachsen, dem Nachbarort von Geradstetten, wo Helmut Palmer lebte. Live erlebt hat er den Nonkonformisten nur ein einziges Mal: 1998, bei dessen Kandidatenvorstellung zur Bürgermeisterwahl in seiner Heimatgemeinde Remshalden. Mehr als drei Jahre lang hat sich Knauer bemüht, Helmut Palmer nahe zu kommen, indem er zahllose Akten gewälzt, Artikel gelesen, Zeugen befragt, Film- und Tondokumente gesichtet hat.
Für seine im Jahr 2011 fertig gestellte Dissertation an der Uni Tübingen habe er aus einem nicht endenden Fundus schöpfen können, sagt der Geschichtswissenschaftler Knauer. Allein 80 Aktenordner mit Zeitungsausschnitten, Korrespondenzen, Notizen und Reden fülle das Palmersche Privatarchiv. Der Papierberg, der ihm vom baden-württembergischen Justizministerium zur Verfügung gestellt worden sei, habe sich einen halben Meter hoch getürmt. Gutachten, Dokumente über Rechtsstreitigkeiten, Zeugenbefragungen, Gefängnisakten – all das habe er studiert, um das Faszinosum Helmut Palmer wissenschaftlich einordnen zu können, sagt Knauer. Eine nüchterne Analyse statt der Verbreitung von Mythen und Anekdoten sei auch das Ziel des auf der Doktorarbeit basierenden, jetzt im Theiss-Verlag erschienenen Buches gewesen, eine Einordnung von Palmers unermüdlichem Agieren und der Reaktion von Politik und Justiz in die Geschichte.
Der Mann, der 1974 beinahe im ersten Wahlgang Rathauschef in Schwäbisch Hall geworden wäre, bei vielen anderen Wahlen fast jede dritte oder vierte Stimme gewann, aber nie ein Mandat inne hatte, habe die Leute aufgerüttelt, genauer hinzusehen, sagt Knauer. In den 1970er-Jahren sei er ein Symptom der Demokratiekrise gewesen, später immer zumindest ein Garant für einen unterhaltsamen Wahlkampf. „Er war ein Prüfstein für andere Kandidaten, und hat manche Wahl erst möglich gemacht“, sagt der Historiker – weil sich außer Palmer oft niemand getraut habe, gegen einen Amtsinhaber anzutreten.
In seinem Buch, das am Freitagabend in der Schorndorfer Buchhandlung Bacher erstmals mit einem rund einstündigen Vortrag des Autoren vorgestellt wurde, legt Knauer einen Schwerpunkt auf die politische Vita des Provokateurs Palmer. Er geht aber auch auf dessen Schmähungen als uneheliches halbjüdisches Kind während der Nazizeit in Geradstetten und seine ihn ebenso prägende Zeit in der Schweiz ein.
Das Beamtentum als Flaschenzug
Natürlich ist das Werk gespickt mit Palmer-Zitaten, die für sich selbst sprechen. Zum Obstbau: „Wer einen Baum spreizt, dem gehört beim Sonntagsspaziergang eine Dachlatte in den Schritt geklemmt, damit er spürt, wie sich das anfühlt.“ Zur etablierten Politik: „Schwarz oder Rot wählen ist, wie wenn ein Rheumakranker sich von der einen auf die andere Seite legt“. Zur Bürokratie: „Das Beamtentum ist ein Flaschenzug. Eine Flasche zieht die andere hoch.“ Zur Ansprache an das Wahlvolk: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Gegner, liebe bedauernswerte Manipulierte, Belogene und Betrogene. . . lassen Sie doch den saudummen Beifall, ich bin unter Zeitdruck“. Oder zu seiner Selbsteinschätzung: „Ich sehe sogar der Kuh am Arsch an, was der Butter in Frankfurt kostet.“
Er habe das politische Leben in Baden-Württemberg bereichert wie kaum ein anderer und – in welcher Form auch immer – prägend auf alle gewirkt, die ihn kannten, lautet eine Einschätzung des Autoren. „Er war ein Genie, aber auch ein schwieriger Mann“, sagt seine Witwe, Erika Palmer. Und: „Ich weiß nicht, wie ich das alles überstanden habe.“
Von der Doktorarbeit zur Biografie
Autor
Jan Knauer, Jahrgang 1981, ist in Remshalden-Grunbach aufgewachsen. 2011 hat der frühere Student der Geschichtswissenschaften seine Dissertation über Helmut Palmer an der Universität Tübingen abgeschlossen, für die er sich mehr als drei Jahre Zeit genommen hatte. Die Doktorarbeit bildet die Grundlage des jetzt erschienenen Buchs. Knauer ist Mitautor des Buchs „Aufbruch, Protest und Provokation, die bewegten 70er- und 80er-Jahre in Baden-Württemberg“ und hat einen Lehrauftrag an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Buch
„Helmut Palmer. Der Remstal-Rebell“, ISBN 978-3-8062-2899-1, ist im Darmstädter Konrad-Theiss-Verlag erschienen. Das Buch umfasst 240 Seiten mit 30 Abbildungen und kostet 24,95 Euro.
Vortragsreihe
Nach dem Auftakt in Schorndorf präsentiert der Autor sein Werk in einer Vortragsreihe an verschiedenen Orten. Der nächste Termin ist am Freitag, 28. März, um 20 Uhr in der Buchhandlung Osiander in Tübingen. Eine Woche später ist Knauer von 20 Uhr an in der gleichnamigen Buchhandlung in Reutlingen zu Gast, am Freitag, 11. April, bei Osiander in der Stuttgarter Nadlerstraße.