Im Gedenken an unschuldige Opfer des Nazi-Regimes hat Karl-Horst Marquart aus Stuttgart-Vaihingen ein Buch geschrieben. Er dokumentiert darin Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart.

Vaihingen - „Ich habe das nicht für den Elfenbeinturm gemacht.“ Das Buch von Karl-Horst Marquart soll nicht in einer Fachbibliothek stehen und nur für wissenschaftliche Zwecke herausgenommen werden. „Ich will informieren, und ich möchte den Opfern ein kleines Denkmal setzen“, sagt der 74-Jährige. Denn bislang sei in Stuttgart zu viel geschwiegen worden. Unter dem Titel „Behandlung empfohlen. NS-Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart“ hat Marquart die Taten dokumentiert – und jeweils nachverfolgt, was aus den Kindern und deren Familien geworden ist.

 

Ausgangspunkt seiner Recherchen war das systematische Töten von körperlich oder geistig behinderten Kindern im Nationalsozialismus: die Kinder-Euthanasie. Das griechische Wort kann man mit richtiger, leichter oder guter Tod übersetzen. Eine Beschönigung, genauso wie auch der Name der zuständigen Abteilung: „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagenbedingten schweren Leiden“. Das Ziel sei gewesen„minderwertige“ Menschen auszusortieren. Im Laufe seiner Recherchen hat der Autor festgestellt, dass es viele weitere Verbrechen in Stuttgart gab, bei denen Mediziner eine Rolle spielten. Dies müsse nicht heißen, dass die Taten in Stuttgart stattgefunden haben, „aber dass die Täter oder auslösenden Personen dort saßen“. Intensiv hat er sich mit der sogenannten Kinderfachabteilung am städtischen Kinderkrankenhaus Stuttgart auseinandergesetzt.

Zwangsarbeiter-Kinder waren unerwünscht

Sein Buch ist in fünf Kapitel aufgeteilt. Marquart dokumentiert die Kinder-Euthanasie, die Zwangssterilisation Minderjähriger, Zwangsabtreibungen sowie die Tötung von Kindern von Zwangsarbeitern. Auch sie waren unerwünscht, die Frauen sollten schließlich arbeiten. Außerdem zeigt er auf, wie Kinder vor ihrer Ermordung für wissenschaftliche Zwecke untersucht worden waren.

Gut ein Jahr hat die Arbeit an dem Buch gedauert; mit dem Themenkomplex beschäftigt sich Marquart schon länger. Während seiner Tätigkeit beim Gesundheitsamt der Stadt Stuttgart habe sein Interesse begonnen, sagt der Mediziner. „Ich habe von Kollegen vieles erfahren. Dass es Dinge in Stuttgart gab, die verdrängt und versteckt wurden.“

Gespräche mit Angehörigen und Nachbarn

Das Forschen in alten Dokumenten ist zeitaufwendig und teuer. Marquart hat unter anderem im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden, im Bundesarchiv in Berlin, im Staatsarchiv in Sigmaringen und natürlich auch im Stuttgarter Staatsarchiv zahlreiche Protokolle und Krankenakten durchforstet. Vieles sei jedoch damals vernichtet worden. „Von 39 Stuttgarter Kindern, die im rheinländischen Eichberg getötet wurden, sind nur fünf Krankengeschichten erhalten“, erzählt der Vaihinger. „Das ist die Krux.“ Was erhalten sei, sei oftmals falsch gedeutet worden, lautet Marquarts Vorwurf. „Die Euthanasie-Geschichte wurde in Stuttgart konsequent unterdrückt.“

Der 74-Jährige hat auch Kontakt zu Angehörigen und Nachbarn aufgenommen und viele Gespräche geführt – nicht immer erfolgreich allerdings. „Man hat damals nicht darüber gesprochen, ich will auch heute nicht darüber reden. Das sagt man mir öfter“, erzählt er. Offenbar empfänden viele persönlich Betroffene es als Schmach und litten bis heute darunter.

Marquarts Buch ist ein Non-Profit-Projekt, soll heißen, er verdient kein Geld damit. Sponsoren, etwa die Ärztekammer Nord-Württemberg, haben die Veröffentlichung möglich gemacht. „Das Gedenken ist wichtig“, sagt er über seine Motivation. Auch deswegen sei ihm daran gelegen gewesen, nicht nur die bloßen Taten zu dokumentieren, sondern die einzelnen Schicksale nachzuverfolgen.

Info
„Behandlung empfohlen. NS-Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart“ von Karl-Horst Marquart erscheint im Peter-Grohmann-Verlag. Es kostet 17,90 Euro, hat 332 Seiten und zeigt Dokumente sowie Fotos.