„Sie kam aus Mariupol“: Natascha Wodin hat mit der Geschichte ihrer Mutter das Schicksal der Zwangsarbeiter in die Weltliteratur eingeschrieben. Ihr Buch könnte, nein müsste am Donnerstag mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet werden.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eines Tages tippt die Schriftstellerin Natascha Wodin den Namen ihrer Mutter in die Suchmaschine des russischen Internet ein, eher spielerisch als erwartungsvoll. Doch überraschend erscheint ein Resultat: Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko, Geburtsjahr 1920, Geburtsort Mariupol. Damit fängt alles an.

 

Mancher, der Ahnenforschung treibt, wiegt sich in der stolzen Krone seines Stammbaums mit der Genugtuung, Teil eines organisch gewachsenen Ganzen zu sein. Die genealogische Verzweigung fächelt ihm das Selbstgefühl der eigenen Identität zu, das Wissen, in den Tiefen der Vergangenheit zu wurzeln, sichert ihm seinen Platz in der Welt. Nichts steht solchem Herkunftsstolz wohl ferner als das Bewusstsein, in dem die Schriftstellerin Natascha Wodin aufgewachsen ist. Denn in ihren Stammbaum hat der Blitz der Geschichte eingeschlagen und nichts übriggelassen als ein paar alte Fotos, die seitenverkehrte Kopie einer Heiratsurkunde und eine alte Ikone aus der Ukraine. „Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war“, schreibt Wodin in ihrem Buch, das sich auf die Suche nach der verlorenen Geschichte ihrer Mutter macht, von der sie anfangs wenig mehr wusste, als was der Titel festhält: „Sie kam aus Mariupol“. Im Krieg war Jewgenia Jakowlewna als Zwangsarbeiterin aus der kleinen ukrainischen Stadt am Asowschen Meer nach Leipzig deportiert worden, um wie unzählige andere „slawische Untermenschen“ in den Rüstungsbetrieben des Flick-Konzerns verheizt zu werden. Sie überlebte, krank, entwurzelt und traumatisiert, bis sie sich 1956 unweit einer tristen Siedlung für „Heimatlose Ausländer“ am Rand einer fränkischen Kleinstadt das Leben nahm.

Verschüttete Lebenslinien

Was aus dem zehnjährigen Mädchen wurde, das die Mutter in jenem sozialen Nachkriegskehricht zurückgelassen hat, von Mitschülern gepeinigt, als „russki“ verhöhnt, hat Natascha Wodin vor dreißig Jahren in ihrer Erzählung die „Gläserne Stadt“ aufgeschrieben, in der sich Autobiografie und Zeitgeschichte eigentümlich durchdringen. In dem neuen Buch kehrt die gläserne Stadt wieder. Es ist eine Geschichte, die die Mutter in dem verdreckten Quartier für Displaced Persons bisweilen erzählte: die Geschichte einer Stadt, in der alles aus Glas ist, die Häuser, die Möbel, die Straßen, selbst die Schuhe an den Füßen der Bewohner. Wenn die Mutter am Ende aufgebahrt wie Schneewittchen im deutschen Märchenbuch daliegt, wird die Todessehnsucht dieser gläsernen Vision eingelöst. Die kristalline Klarheit des Vorstellungsbildes aber lebt in der Erzählkunst Wodins weiter, die das Einzelschicksal ihrer Mutter durchscheinend werden lässt, für die ungeheuren Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts.

Wurzellos von Angang an

Denn was der Treffer in der russischen Suchmaschine und das Glück weiterer Funde zutage fördert, ist das Los einer Familie, die von den lichten Höhen gesellschaftlichen Ansehens durch die ideologischen Umwälzungen von russischer Revolution, stalinistischem Terror, nationalsozialistischer Okkupation durchgereicht wird, bis sich ihre Spur in den unwirtlichen Randzonen der Nachkriegszeit verliert. Durch ihre Recherchen im Weltarchiv des Internets stößt die Erzählerin nach und nach auf die abgebrochenen Zweige und verschütteten Lebenslinien. Und plötzlich findet sich die, die sich als Kind immer nur herausgelöst aus allen Bezügen erleben konnte, in einer Nachfahrenschaft ukrainischer Adliger, italienischer Seefahrer, Opernsänger und Intellektueller wieder.

Die versunkene Welt dieser Menschen erwacht in einer gleichsam dokumentarischen Imagination zum Leben, allerdings nur, um auf ihren Untergang zuzutreiben. Fragen, unverhoffte Antworten, innere wie äußere Bilder, Quellen und Berichte, Erlebtes und Vorgestelltes verdichtet Wodin zu einer suggestiven Erzählung. Da ist der Großvater, der von der Geheimpolizei des Zaren für zwanzig Jahren nach Sibirien verbannt wurde, um unter Stalin erneut ins Kreuzfeuer der Macht zu geraten. Die Tante landet in einem Lager am Polarkreis, weil sie sich in der Sowjetunion einer verbotenen Gruppe zur Befreiung des Proletariats angeschlossen hat. Schließlich die Mutter: Als Angehörige früherer Großkapitalisten findet sie in der neuen sowjetischen Gesellschaft keinen Platz, den nationalsozialistischen Okkupanten gilt sie als Untermensch, als ehemalige Zwangsarbeiterin steht sie nach dem Krieg in der Heimat unter Kollaborationsverdacht, während man sie in Deutschland als Verkörperung der sowjetischen Siegermacht verfemt, erniedrigt und beleidigt. „Sie war keine Entwurzelte, sondern eine Wurzellose von Anfang an, schon geboren als Displaced Person“. Der Wahnsinn der Ereignisse, die Bestialität der Akteure, erschließt sich in seinem Ausmaß nicht in historischen Generalbegriffen. Was die schwindelerregenden Opferzahlen wirklich bedeuten, entfaltet sich im Umweg über das Leben des Einzelnen. „Wenn Du gesehen hättest, was ich gesehen habe“, lautet einer der wenigen Sätze der Mutter vor ihrem Verstummen. Natascha Wodin macht es sichtbar.

In den Rüstungswerken des Flick-Konzerns verheizt

Das Schicksal der in der deutschen Kriegswirtschaft zu Tode geschundenen osteuropäischen Zwangsarbeiter blieb lange im Schatten der anderen monströsen Verbrechen der NS-Diktatur. „Die Überlebenden der Konzentrationslager hatten Weltliteratur hervorgebracht, Bücher über den Holocaust füllten Bibliotheken“, schreibt Natascha Wodin, „aber die nichtjüdischen Zwangsarbeiter, die die Vernichtung durch Arbeit überlebt hatten, schwiegen.“ Dieses Buch bricht das Schweigen. Und weil Wodin diesen Stoff nicht einfach nur aufgreift, sondern bis ins Herz durchdringt, schreibt sie die Geschichte der Mutter in die Weltliteratur ein. „Sie kam aus Mariupol“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Leipzig, das ist die Stadt, in der sich Jewgenia Jakowlewna unter besonders brutalen Bedingungen für den Flick-Konzern um den Verstand schuftete, ohne je dafür entschädigt worden zu sein. Flick avancierte nach dem Krieg zu einem der reichsten Männer der Bundesrepublik.

Was Natascha Wodin in ihrer Ahnenforschung zutage fördert, ist nicht nur ihre Geschichte, es ist unsere Geschichte. Sie bebt in den genealogischen Nervenenden von jedem nach, der durch wie viele Generationen auch immer getrennt in ihrem Einzugsbereich steht. Und wer tut das nicht. In dem mitempfindenden Schmerz des Lesers findet Wodins Mutter endlich jene Bürgerrechte, die ihr im Leben überall vorenthalten blieben.