Findet dieses Paar nach Jahrzehnten doch noch zusammen? Saoirsa Ronan und Domhnall Gleeson in der oscarnominierten Verfilmung von Colm Tóibíns Roman „Brooklyn“. Foto: imago/Cinema Publishers Collection/Kerry Brown
Vor 15 Jahren hat Colm Tóibín in „Brooklyn“ von dem Gefühlschaos der jungen Auswanderin Eilis Lacey erzählt. Kann man an eine alte Geschichte wiederanknüpfen? In seinem neuen Roman „Long Island“ gibt der irische Autor eine atemberaubende Antwort.
Vor gut fünfzehn Jahren hat der Schriftsteller Colm Tóibín in seinem Roman „Brooklyn“ die Geschichte der jungen Eilis Lacey erzählt, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts aus dem kleinen irischen Städtchen Enniscorthy nach New York verschickt wird, um dort ihr Glück zu machen. Zerrissen von Heimweh fügen sich die beiden Hälften von ihr nicht mehr zusammen. In Brooklyn findet sie Zuflucht vor der Einsamkeit in der heimlichen Ehe mit einem italienischen Klempner, doch während eines Aufenthalts in der alten Heimat kommt sie dem Pub-Besitzer Jim Farrell so nahe, das auch hier alles auf eine Hochzeit zuzulaufen scheint. Das zum Greifen nahe erträumte Glück einer Wiederkehr steht in unauflöslichem Widerspruch zur verschwiegenen Realität ihres amerikanischen Lebens. Durch das offene Ende von Eilis‘ verzweifeltem Aufbruch zurück in die USA weitet sich die Perspektive von einer schicksalhaften Konstellation gebrochener Herzen zur tragischen Zugehörigkeitskrise eines von den Hoffnungen und Verlusten der Migration geprägten Daseins.
Colm Tóibín Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Dann gehen die Jahre ins Land. Colm Tóibín schreibt vier weitere Romane, die Schauspielerin Saoirse Ronan wird für ihre Darstellung der Protagonistin in der Verfilmung von „Brooklyn“ für den Oscar nominiert. Und nun ist Eilis wieder da. „Long Island“, das neue Werk des irischen Autors, knüpft an die Ereignisse an, die mittlerweile lange zurückliegen. Aus der jungen Migrantin ist eine selbstbewusste, beruflich erfolgreiche Frau geworden, Mutter zweier fast erwachsener Kinder, die sich mit der italienischen Großfamilie, in die sie eingeheiratet hat, eigentlich leidlich arrangiert hätte, wäre irgendwann nicht ans Tageslicht gekommen, was ihr Mann so treibt, wenn er bei der Arbeit Rohre verlegt.
Um Abstand zu gewinnen, nimmt Eilis den achtzigsten Geburtstag ihre Mutter zum Anlass, um nach mehr als zwanzig Jahren einmal wieder nach Irland zu reisen. Es kommt zu folgenreichen Wiederbegegnungen, die ein Geschehen in Gang setzen, dessen kaum auszuhaltende Konsequenz an eine antike Tragödie erinnert, auch wenn die, die hier schicksalhaft aneinandergeraten, keine Halbgötter sind, sondern Fish-and-Chips verkaufen, Pubs betreiben oder Buchhaltungen organisieren. Die Fäden ziehen weder numinose Mächte noch ein allwissender Autor, der an der hoffnungslosen Verstrickung der Handelnden sein Gefallen findet, sondern soziale Verhältnisse, fesselnde Konventionen und alles auflösende Entfremdungserfahrungen.
Eilis‘ kleinstädtische Herkunftswelt liegt nicht im Licht nostalgischer Verklärung, sondern im Schatten provinzieller Rückständigkeit. Vor dem engmaschigen Überwachungssystem des Gerüchts ist kein noch so intimes Geheimnis sicher, in Kirche und Pub ziehen sich die Stränge des kommunalen Kommunikationsnetzes zusammen. Auf der anderen Seite steht die patriarchale italienische Enklave, in die sie eingeheiratet hat, mit unumstößlichen Ehrbegriffen, Ritualen und Regeln, die ihr immer fremd geblieben sind. Hinter allem flackert die Geschichte: die armenische Tragödie, die Eilis‘ Arbeitgeber in die Migration getrieben hat; einmal erzählt der Hobbyhistoriker ihr, er habe ein Buch über Irland gefunden, was dort passiert war, sei genauso schlimm wie in Armenien gewesen. Aus der zeitlichen Nähe dringen die Proteste gegen den Vietnamkrieg herein, die Zusammenstöße von Protestanten und Katholiken in Nordirland.
Leben im Transit
Das sind die Kräfte, von denen die Figuren geformt werden. Genau schaut Colm Tóibín ihnen dabei über die Schulter. Oberflächlich betrachtet könnte man den scheinbar traditionsverhafteten Erzählstil für etwas altmeisterlich halten. Doch der Realismus ist hier keine gedankenlose Konvention, sondern eine Anschauungsform, hinter der die Überzeugung steht, dass die Einzelnen nur aus ihrer jeweiligen Lebenswirklichkeit heraus verständlich werden können.
Die unvereinbaren Lebenswelten einer Eheflüchtigen, ihrer früheren besten Freundin und des ehemaligen Geliebten treiben unaufhaltsam auf einen Eklat zu. Was in diesem Bermuda-Dreieck der Liebe verloren geht, weist über sich hinaus auf den unauflöslichen Konflikt zwischen alten Gefühlen und neuen Realitäten, dem sich ein Leben im Transit aussetzt.
Die Folgerichtigkeit, in der sich das Geschehen zuspitzt, ist weit davon entfernt, in der Problematisierung kultureller und emotionaler Entwurzelungen Genüge zu finden. Der Unbarmherzigkeit der Darstellung entspricht aufseiten der Leser eine Entfesselung der Gefühle, ein impliziter Appell an die Solidarität mit denen, die durch die Heimatlosigkeit ihrer Leidenschaften irren. Er hallt nach im Eintreten des Essayisten Colm Tóibín für eine menschliche Migrationspolitik. Er stammt selbst aus Enniscorthy, das Los irischer Auswanderer ist ihm von Kindesbeinen an vertraut.
So wird in dieser Geschichte aus vergangenen Tagen vieles von dem lesbar, was die Gegenwart bestimmt. Genau diese Qualität aber bezeichnet den Punkt, an dem Altmeisterliches umschlägt in ein aktuelles Meisterwerk.
Colm Toíbín: Long Island. Roman. Aus dem Englischen von Givanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag. 320 Seiten, 26 Euro.
Info
Autor Colm Tóibín, geboren 1955 in Enniscorthy, County Wexford, zählt zu den wichtigsten irischen Autoren der Gegenwart, vielfach preisgekrönt. Zu Werk gehören Romane wie „Nora Webster“, „Das Feuerschiff von Blackwater“ und „Brooklyn“. International bekannt wurde er mit „Porträt des Meisters in mittleren Jahren“ über den amerikanisch-britischen Schriftsteller Henry James. Zuletzt erschien der Thomas-Mann-Roman „Der Zauberer“, 2021). Zu den vielen internationalen Auszeichnungen zählt der mit 25 000 Euro dotierte Würth-Preis für Europäische Literatur hinzugekommen, der dem Autor am 4. Juni in Künzelsau verliehen wird.
Termin Am 17. Juni stellt Colm Tóibín seinen neuen Roman „Long Island“ im Literaturhaus Stuttgart vor.