In Stephen Kings Roman versucht ein Zeitreisender, John F. Kennedy zu retten – ein Buch, das rät, man solle lieber bedacht nach vorne als verkrampft nach hinten schauen.

Stuttgart - Der Wirt Al nennt seine Spezialität schlicht Fatburger. Seine Gäste und vor allem seine Nichtgäste im Städtchen Lisbon Falls in Maine lästern gerne, dass der konkurrenzlos günstige Fatburger aus dem Fleisch überfahrener Katzen gemacht sei. Auch wenn man dem Inhaber solche Rezepte nicht zutraut, möchte man vielleicht nicht unbedingt in die Küche und ins Hinterzimmer schauen.

 

Der Stammgast Jake Epping aber, ein Highschoollehrer Mitte Dreißig, tut das in Stephen Kings neuem Roman „Der Anschlag“ doch, auf Drängen des von einem Tag auf den andern enorm gealtert wirkenden Al. Was der Wirt seinem Gast zeigen will, sind aber nicht die Beweise, dass bei ihm stets alles hygienisch zugeht. Al offenbart Jake die seltsamste Installation im Diner, ein Zeitloch hinten bei den Vorratsregalen, eine Lücke im Weltgewebe, durch die man in die Vergangenheit der USA steigen kann, genauer gesagt, hinein in den 9. September 1958, einen ganz normalen Dienstag mitten im Kalten Krieg.

Haare raufen

Wer sich grundsätzlich schwertut mit fantastischer Literatur, wird sich nun die Haare raufen. Zumindest wird er King in Erklärungsnot sehen. Wie ist dieses Zeitloch entstanden? Wie funktioniert es? Warum vergehen in der Gegenwart immer nur zwei Minuten, egal wie viele Stunden, Tage, Wochen, Jahre der Zeitlochnutzer im Amerika von gestern bleibt? Warum hat der Diner-Betreiber Al nicht längst die ganz Welt, die Wissenschaft, die Medien oder finanzkräftige Abenteurer informiert?

Die Erwartung auf zumindest scheinlogische Anbindungen des Ungeheuerlichen an unsere Erfahrungen lässt King gelassen an sich abperlen. Er schildert zwar Verwirrung und Ungläubigkeit, aber eine alle Gewissheiten und Vorstellungen zerbrechende existenzielle Erfahrung wird die Möglichkeit der Zeitreise für den Provinzlehrer nicht. Bei mancher Passage des Romans denkt man, es könnte genauso gut um die Entdeckung eines erstaunlich fahrtüchtigen Oldtimers in einer Scheune gehen.

King begeht da allerdings nicht den Fehler mangelnder Ernsthaftigkeit. Was zunächst wie der allzu lässige Verweis auf eine Genretradition erscheint – die Idee der Zeitmaschine gibt es schon lange, also nehmen wir halt auch eine in Betrieb – erweist sich als Teil einer spezifischen Erzählstrategie.

Vom Kurs abgekommen

Die Zeitreise stellt King nicht als fantastisches Ding gänzlich außerhalb unserer Erfahrungswelt dar, weil er sie uns im Gegenteil als passende Verdinglichung alltäglicher Denkweisen nahebringen möchte. Grübelt nicht beinahe jeder bei allen möglichen Gelegenheiten daran herum, wie eine andere Entscheidung hie, ein abweichendes Rollen der Zufallswürfel da das eigene Leben oder den Lauf der Welt verändert hätte?

Auch Al ist so ein Typ, der sich die Welt mit besten Absichten anders wünscht. Der glaubt, sein Land sei schon einmal auf einem besseren Weg gewesen. Und der Diner-Wirt glaubt auch zu wissen, wann die USA vom richtigen Kurs abgekommen sind: mit John F. Kennedys Ermordung im November 1963. Die hat Al mit Hilfe des Zeitlochs zu verhindern versucht, was ihm das Schwinden seiner Gesundheit aber nun nicht mehr weiter erlaubt. Er übergibt das hehre Projekt an Jake Epping. Der Lehrer, in dessen Hier und Heute wieder nur zwei Minuten vergehen werden, soll fünf Jahre in der Vergangenheit leben, um den Attentäter Lee Harvey Oswald zu stoppen. Vor allem soll er herausfinden, ob Oswald Einzeltäter oder Teil einer Verschwörung war. Sollte Oswald sich als bloßer Strohmann in einem Intrigantenspiel erweisen, wäre es völlig sinnlos, nur ihn allein zu stoppen.

Epping unternimmt zunächst einen Testlauf, ob Handeln in der Vergangenheit die Gegenwart beeinflussen kann. Er verhindert erfolgreich eine Familientragödie, muss aber lernen, dass die Vergangenheit zähen Widerstand leistet, dass sie so ablaufen möchte, wie Epping sie schon kennt.

Thriller, Kleinstadtroman, Liebes- und Horrorgeschichte

Die Wartezeit bis zum Attentat in Dallas erzählt King als Mischung aus Thriller, Kleinstadtroman, Liebes- und Horrorgeschichte. Immer wieder scheint sich der 1947 geborene Autor in hemmungsloser und kleinbürgerlicher Nostalgie zu ergehen: das Essen war schmackhafter, das Bier billiger, die Leute waren freundlicher, die Autos geräumiger. Immer wieder aber zeigt King die monströsen Abseiten dieser weißen Idylle, den Rassismus, die Borniertheit, die Bigotterie. Doch trotz einiger wirkungsvoller Hinterfragungen der besseren Zeit scheint der Text von Sehnsucht geprägt. Auch das aber dient nur der Herstellung von Fallhöhe.

Stephen King hängt hier keinem individuellen Gedankenspiel nach, er greift die kollektive Befindlichkeit der verarmenden Bürger einer verunsicherten Weltmacht auf. Viele möchten sich Rat und Trost holen bei den Helden und Werten anderer Zeiten. King aber lässt seinen Jake Epping nur deshalb lange und halbwegs erfolgreich an der Vergangenheit manipulieren, um ihn dann mit der Erkenntnis zu schocken, dass eine neue Zukunft neue Ungewissheiten birgt und noch schlimmer werden könnte als die schon vertraute. „Der Anschlag“ ist ein Buch, das rät, man solle lieber bedacht nach vorne als verkrampft nach hinten schauen. Es ist ein großer Gegenentwurf zum beginnenden Wahlkampfzirkus in den USA, der wieder mal ganz falsch mit Vergangenheit und Zukunft umspringen wird.

Stephen King. Der Anschlag. Roman. Aus dem Englischen von Wulf Bergner. Heyne Verlag, München. 1065 Seiten, 26,99 Euro.