Das Leben ist keine ordentliche Angelegenheit, schon gar nicht, wenn Rassisten das Sagen haben: die in Brooklyn lebende Regina Porter porträtiert in ihrem großen Familienroman „Die Reisenden“ das schwarze Amerika.

Stuttgart - Wenn eine eine Reise tut, hat sie viel zu erzählen. Regina Porter, eine schwarze Schriftstellerin aus Savannah, Georgia, die in Brooklyn Theater mit und für Frauen macht, beschreibt in ihrem ersten Roman die lange Reise der Schwarzen in Amerika von der Rassentrennung der fünfziger Jahre und der Bürgerrechtsbewegung der Sechziger bis in die Obama-Ära 2010: Sechzig Jahre Erniedrigung, Diskriminierung, Gewalt, aber auch – Pessimismus oder gar unversöhnlicher Hass sind Porters Sache nicht – wachsendes Selbstbewusstsein, politische Emanzipation, kulturelle Befreiung.

 

„Traveller“, Reisende, sind Porters Familien auch im buchstäblichen Sinn: Auf der Suche nach sicheren Häfen für ihre von der Norm abweichende Identität, ziehen sie dauernd um und weiter, von der Bronx nach Georgia und umgekehrt, aus dem Getto in die weißen Vorstädte, von New York nach Vietnam (wo der sensible Eddie während seines Militärdiensts einen rassistischen Bootsmann tötet und sich ein Trauma fürs Leben einfängt), in die freie Landluft der Bretagne oder nach West-Berlin, wo Eloise, die Fliegerin, David Bowie hören und ihre lesbischen Neigungen erstmals frei ausleben kann.

Das alles ist, vor allem am Anfang, nicht leicht zu lesen. Porter erzählt ihr Generationen und Welten umspannendes Panorama nicht chronologisch, sondern in ständigen Zeitsprüngen, Vor- und Rückblenden. Das Personenregister mit 35 Namen deckt nur einen Bruchteil der Figuren ab. Für die Aufdröselung der verwickelten Patchwork-Familienverhältnisse mit Vettern dritten Grades, Cousinen, verleugneten Halbgeschwistern und heimlichen Geliebten wären Stammbäume hilfreich gewesen. Dabei gibt Porter durchaus Hilfestellungen. Vor jedem Kapitel steht ein Zeitstrahl mit Jahreszahlen; Schwarz-Weiß-Fotos, etwa der von Eloise verehrten schwarzen Flugpionierin Bessie Coleman, Playlists, Rezepte und Lexikoneinträge sorgen für Authentizität.

Schwarz-weiße Wimmelbilder

Jedes Kapitel rückt eine andere Figur ins Zentrum und schlägt einen anderen Erzählton an. Schließlich sind sie auch nach Hautfarbe, Religion oder Bildungsgrad alles andere als heterogen: Möbelpacker und Feuerwehrleute sind darunter, Soldaten und Offiziere, Baptisten und katholische Nonnen, People of Color in allen Schattierungen. Die schwarze Shakespeare-Forscherin ist mit einem weißen Joyce-Experten verheiratet; die hoch begabten Kinder wachsen mit Tom Stoppards Drama „Rosenkranz und Güldenstern“ (1967) auf.

Porter erzählt ihre wuchernden Storys mal in Ich-, mal in Er-Form, hoch literarisch und dann wieder im Umgangsjargon, in Briefform oder als Shakespeare-Vers. Man kann jedes Kapitel als abgeschlossene Kurzgeschichte lesen; zusammen ergibt sich jedenfalls ein Puzzle von Short Cuts, ein Wimmelbild mit allen möglichen Stufungen ethnischer, sozialer und sexueller Diversität, ein Geschichtenteppich mit wiederkehrenden Mustern und Figuren. Ein fetter, vor sentimentalem „Verständnis“ triefender Familienroman sind „Die Reisenden“ nie: Porter schreibt herausfordernd kühl und lakonisch, ohne pädagogischen Zeigefinger und beflissene historische Kontextualisierung, aber nie ohne Empathie. Das Leben ist nun mal keine ordentliche Angelegenheit, keine Reise von A nach B, sondern ein Kommen und Gehen, Suchen und Irren.

Die geheimen Codes, die Revier und Status markieren, sind nicht immer leicht zu entziffern, jedenfalls nicht für „Weißenlogik“. Die bösen Sachen und wichtigen Dinge passieren ohnehin eher beiläufig, in kleinen, alltäglichen Gesten. Etwa wenn die schwarze Krankenschwester vom weißen Chefarzt oder Jeb im Diner von der Bedienung übersehen wird. Wenn schwarze Aufsteiger wie die Applewoods beim Umzug in bessere, weiße Viertel säuerlich willkommen geheißen und gleich wieder auf Distanz gehalten werden. Oder wenn 1966 auf dem Dixie Overland Highway Agnes und ihr erster Liebhaber Claude in eine Verkehrskontrolle geraten.

In einer Liga mit Toni Morrison

Das läuft dann so: Officer Haig will die Angelegenheit bei einem netten „kleinen Spaziergang“ im Gebüsch bereinigen. Als Agnes zurück kommt, ist „der Schwung ihrer bauschig auftoupierten Haare dahin“. Der rassistische Cop hält ihr höflich die Tür auf und tröstet: „Insgesamt hätte die Sache doch viel schlimmer ausgehen können“. Agnes wahrt eisern die Fassung. „Sie blinzelte nur, als Claude sie fragte, ob er sie ins Krankenhaus bringen solle. Blinzelte nur, als er sie fragte, ob sie bei Mrs Franchine halten sollten, der farbigen Hebamme, die es gewöhnt war, zu den unchristlichsten Zeiten herausgeklingelt zu werden. Erst als er wissen wollte, ob es sehr schlimm sei, blickte Agnes auf ihre Hände und merkte, dass der Cracker-Jack-Ring nicht mehr an ihrem Finger steckte. Heulend und hysterisch fuhr sie zu Claude herum, flehte ihn an umzudrehen.“

Jahre später, im letzten Kapitel, wird Agnes ihrem alten Peiniger im Great Byrd Lodge wiederbegegnen. Er ist lahm und hat alles vergessen, sie hat keine Lust, ausgerechnet beim Familientreffen alte Wunden aufzureißen. An der Wand hängt noch der ausgestopfte Alligator, im alten Pfarrhaus nebenan war einmal eine Zwergschule für befreite Sklaven: Kein Grund, mit dem Schicksal zu hadern. „Pecan Pie ist mir wirklich viel zu süß“, sagt Agnes beim Nachtisch zu ihren Kindern und Enkeln. „Aber lasst ihn euch schmecken. Wir sind hier. Greift zu“.

Nichts, was die Weißen ihren schwarzen Brüdern und Schwestern angetan haben, ist vergessen und vergeben. Aber jetzt hat eine neue Zeit begonnen: Schwarze müssen nicht länger mehr Brosamen und Schlimmeres vom Tisch der weißen Herrschaft aufklauben. Auch in der US-Literatur sind schwarze Frauen wie Toni Morrison oder nun Regina Porter längst ebenbürtig mit alten weißen Männern.