Stuttgart - Diversität ist als Schlagwort in aller Munde, aber was die in unseren Breiten veröffentlichte schöne Literatur angeht, so ist es fast immer noch so, dass Autoren aus der Mittelschicht für Leser aus der Mittelschicht Geschichten aus der Mittelschicht erzählen. Erst allmählich scheint sich daran etwas zu ändern, wenn man etwa an die Erfolge der Bücher von Didier Eribon oder Édouard Louis denkt, die über ihre Herkunft aus einem sozial abgehängten und politisch und kulturell orientierungslosen proletarischen Milieu schreiben.
Der britische Booker Prize 2020 für den autobiografisch inspirierten Debütroman „Shuggie Bain“ des aus der Glasgower Arbeiterklasse stammenden Schotten Douglas Stuart, der jetzt in der Übersetzung von Sophie Zeitz auf Deutsch erscheint, fügt sich ein in diesen neuen Trend. Das Romanmanuskript war allerdings von dreißig Verlagen abgelehnt worden, ehe es einen Verleger fand, was zeigt, dass sich die Verlagslektoren, meist ebenfalls aus der Mittelschicht stammend, noch immer schwer tun mit Geschichten jenseits der vertrauten eigenen Lebenswelt.
„Buddenbrooks“ in der Arbeiterklasse
Bei „Shuggie Bain“ kommt hinzu, dass der Roman nicht nur inhaltlich im Milieu einer ins Sozialhilfe-Prekariat abdriftenden ehemals selbstbewussten Arbeiterklasse spielt, in einem Glasgow, das man in keinem Reiseführer findet, sondern auch sprachlich den Slang seiner Anti-Helden zu Wort kommen lässt. Das unterscheidet ihn von den oben genannten Büchern von Didier Eribon und Édouard Louis und hat die Übersetzerin vor große Probleme gestellt, die sie mehr schlecht als recht gelöst hat, indem sie sich für einen Mix aus sämtlichen norddeutschen Dialekten entschieden hat. Wie sprachbewusst der Autor mit dem Unterschied zwischen Standardsprache und Slang umgeht, zeigt etwa eine Stelle, wo es von seinem jungen Helden Shuggie Bain heißt, er sei der einzige in seiner Schulklasse, der den Unterschied zwischen „May I“ und „Can I“ begriffen habe.
Hugh Bain, genannt Shuggie, ist also anders als die Jungs in seiner Nachbarschaft. Das trifft auch auf seine Mutter Agnes zu, die dem sozialen Niedergang ihrer Umgebung durch ein perfektes Styling ihres Äußeren zu trotzen versucht. Um diese Mutter-Sohn-Achse und die besondere Beziehung zwischen den beiden dreht sich Douglas Stuarts Familienroman, der sich über drei Generationen erstreckt und den man als eine Art „Buddenbrooks“ aus der Glasgower Arbeiterklasse bezeichnen könnte. Auch hier findet der Verfall einer Familie statt, der zugleich als exemplarisch für das Ende der alten Industriegesellschaft gelesen werden kann. Denn der Roman spielt, mit kurzen Rückblenden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, zwischen den Jahren 1981 und 1992, also in der Ära von Margaret Thatcher und ihrer Deindustrialisierungspolitik.
Die Macht der Männlichkeit in der Krise
Der Vater von Shuggie, ein Hallodri, der als Taxifahrer arbeitet und die Familie bald verlässt, sinniert auf einer seiner nächtlichen Fahrten durch Glasgow: „Die Stadt veränderte sich; er sah es in den Gesichtern ... Er hörte, wie die Leute sagten, dass Thatcher keine ehrlichen Arbeiter mehr wollte … Die Tage der Industrie waren gezählt, und die Gerippe der Clyde-Werft und der Springburn-Eisenbahnwerke lagen in der Stadt herum wie abgenagte Dinosaurierknochen. Ganze Hochhäuser voller junger Kerle, denen man das Handwerk ihrer Väter versprochen hatte und die jetzt keine Zukunft mehr hatten. Kerle, die ihre Männlichkeit verloren“.
Das Geniale an Douglas Stuarts Roman ist es, dass er zeigt, wie mit dem Ende der alten Industriegesellschaft auch deren Bild von der Männerrolle, die „berauschende Macht der Männlichkeit“, wie es einmal im Roman heißt, in eine Krise gerät und funktionslos wird. Und genau das ist es, was am Ende dafür sorgt, dass das Muttersöhnchen Shuggie, der feminine Junge, der so gar nicht dem Männlichkeitsideal der Arbeiterklasse entspricht und vergeblich versucht, sich die Resultate in der schottischen Fußballliga zu merken, den Zerfall seiner Familie überleben wird.
Eine an Tolstoi gemahnende Objektivität
Erst sterben die Großeltern, dann verlassen seine älteren Halbgeschwister Catherine und Alexander das Haus, bis er allein mit seiner stolzen, aber sich allmählich zu Tode trinkenden alkoholkranken Mutter in einer heruntergekommen Bergarbeitersiedlung zurückbleibt, in der fast alle von der Sozialhilfe leben.
Édouard Louis’ Debütroman „Das Ende von Eddy“ war eine wütende Abrechnung mit dem Machismo seiner proletarischen Herkunftswelt. Douglas Stuart dagegen hat sich Zeit gelassen, erst im Alter von vierzig zu schreiben begonnen, und so liest sich sein Rückblick auf eine prekäre Kindheit viel distanzierter und abgeklärter. Ihm ist ein beeindruckendes Buch gelungen, das in einer an Tolstoi gemahnenden Objektivität nichts beschönigt und dennoch keine seiner Figuren denunziert.
Info
Preis
Der Booker Prize ist der wichtigste britische Literaturpreis, vergleichbar dem Prix Goncourt in Frankreich oder dem Deutschen Buchpreis in Deutschland. Er wird seit 1969 verliehen für den besten englischsprachigen Roman des Jahres, der im Vereinigten Königreich publiziert wurde, und ist mit 50 000 Pfund dotiert. Bisherige Preisträger waren unter anderen Salman Rushdie (1981 für „Mitternachtskinder“), Alan Hollinghurst (2004 für „Die Schönheitslinie“) und Hilary Mantel (2009 für „Wolf Hall“).
Autor
Der 1976 in Glasgow geborene Douglas Stuart ist nach dem 1994 ausgezeichneten James Kelman erst der zweite schottische Booker-Prize-Träger. Stuart bezeichnet Kelman denn auch als eines seiner Vorbilder, weil der es gewagt hatte, das Milieu und die Sprache der Glasgower Arbeiterklasse in die Literatur einzuführen. Nach einem Studium am Royal College of Art in London zog Stuart im Jahr 2000 nach New York City, wo er seither als Modedesigner gearbeitet hat, sich aber künftig ganz dem Schreiben widmen will.
Buch
Douglas Stuart: Shuggie Bain. Roman. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser Berlin, 494 Seiten, 26 Euro.