Buchtipp: Martin Kordić „Jahre mit Martha“ Frau Kramers Lover
Eine Liebe, die sich über alle Alters-, Herkunfts- und Klassenfragen hinwegsetzt – davon erzählt Martin Kordić in seinem schmerzhaft schönen Roman „Jahre mit Martha“.
Eine Liebe, die sich über alle Alters-, Herkunfts- und Klassenfragen hinwegsetzt – davon erzählt Martin Kordić in seinem schmerzhaft schönen Roman „Jahre mit Martha“.
Einmal sieht Željko Drazenko Kovačević, der sich der Einfachheit halber lieber Jimmy nennt, die beiden Mädchen, auf die er an diesem Nachmittag aufpassen soll, an den Nachbarhäusern klingeln, wo sie um Brot und Wasser betteln. Als er sie fragt, was sie da treiben, bekommt er die Antwort: „Wir spielen arme Kinder.“ So stellt man sich Armut vor, wenn man in einer Villa wie der der Kramers am Rand der Heidelberger Altstadt aufwächst, wo Jimmys Mutter putzt und er selbst kleine Garten- und andere Dienste übernommen hat. Im Moment gehört dazu, den privilegierten Mädchen zu zeigen, wie man richtig arme Kinder spielt: indem man sich mittags vor den Fernseher fläzt, verbotenes Zeug trinkt, Chipstüten leert und versucht, seinen Namen zu rülpsen.
Dass sich irgendwann die Mutter eines der Mädchen dazugesellt, eine Professorin, um ihren Vornamen Martha auf diese Weise zu artikulieren, dürfte eher die Ausnahme sein. Doch in Martin Kordić’ Roman „Jahre mit Martha“ passiert genau das, und, worauf schon der Titel weist, entsteht daraus eine Geschichte von eigener Dauer.
Wie in der geschilderten Szene verschränken sich darin soziologisch präzise Bestandsaufnahmen mit etwas völlig Unerwartbarem, der fatale Determinismus gesellschaftlicher Verhältnisse mit dem Unvorhersehbaren einer Amour fou. Und deren Eigenart selbst wird von diesem fürs Spezielle reservierten Begriff nur unzureichend erfasst.
Nichts läuft hier so wie erwartet, und doch bleibt alles bestimmt von Umständen, die der ältere Bruder Jimmys, als dieser ihm eröffnet, studieren zu wollen, so umschreibt: „Das ist nichts für Kinder wie uns.“ Kinder wie sie haben Eltern, die aus einem kleinen kroatischen Dorf in Bosnien-Herzegowina nach Deutschland gekommen sind; sie teilen sich zu fünft eine kleine Zweizimmerwohnung am Rande des Ludwigshafener Chemiebezirks und sind auf sich gestellt, weil sich ihre Eltern in diversen schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen aufreiben; und wenn sie es trotz allem aufs Gymnasium schaffen, kann es passieren, dass sie wie Jimmy bei berufsorientierenden Informationstagen trotz bester Noten nahegelegt bekommen, nach der zehnten Klasse von der Schule abzugehen, um eine Ausbildung zum Gärtner zu beginnen.
Kinder wie sie sind es allerdings auch, aus deren Erfahrungen mit dem Einwanderungsland Deutschland Romane werden, die zum Besten zählen, was das Literaturland Deutschland zu bieten hat. Was weder heißt, dass der Ich-Erzähler Jimmy irgendetwas über gewisse biografische Parallelen hinaus mit dem Autor Martin Kordić gemein haben müsste, noch dass sich die Bedeutung seines Romans im Geringsten darin erschöpfen würde, vor Augen zu führen, wie man arme Kinder als Literatur richtig spielt. Aber dass er es weiß, verleiht dem Unwirklichen einer Liebe, die sich über alle Alters- und Klassengrenzen hinwegsetzt, ihre Fallhöhe und Intensität.
In Martha findet Jimmy den Halt, den seine Mutter ihm nicht geben konnte, unter anderem auch deshalb, weil sie Marthas Haus putzen musste. Paradox – eines der Wörter, dessen Bedeutung sich der beflissene Schüler auf Pappkärtchen notiert, weil er hofft, damit die Zugehörigkeit zu einer Welt zu erlangen, die Kindern wie ihm sonst verschlossen ist. Schließlich ist es nicht die Bildung, sondern die Liebe, die die Tore öffnet. Auch das ein Spiel, hart an der Schwelle zum Missbrauch. In der erotischen Gegenwelt, in der Martha und Jimmy zusammenfinden, erfährt er, was man dabei gewinnen kann, in dem ausbeuterischen Günstlingsverhältnis zu seinem späteren Universitätsprofessor, wie man alles verliert.
Die Fern- und Nahbeziehung zu der um viele Jahre älteren Martha ist ein imaginärer Faden, der sich durch die diversen Affären Jimmys mit anderen Frauen und Männern zieht. Er führt in das vom Krieg gezeichnete Dorf in der Heimat der Eltern, wo der Ustascha-Großvater mit seinem Hitlerbärtchen auf dem Totenbett liegt. Und er reißt auch in der dunkelsten Zeit seines Lebens nicht vollständig ab. Während das Land im deutschen Sommermärchen seine Freude an den Nationalfarben entdeckt, irrt Jimmy durch die Kellergeschosse deutscher Vergangenheitsbewältigung, wo er entdeckt, warum die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in München eine so gute Zeit für Immobiliengeschäfte waren – Hitlerbärtchen hier wie dort.
An der Universität ist es Jimmy, als könnte er sich mit jedem Buch von seiner Herkunft weg zu einem anderen Menschen lesen, „mich so sehr mit Geschichten anfüllen, dass die eigene keine Rolle mehr spielte“.
Spiegelbildlich dazu verhalten sich die „Jahre mit Martha“. Das Exemplarische von Jimmys Lebensumständen überführt dieser schmerzlich-schöne Liebesroman in das Besondere einer Geschichte. Selbstbewusst zwinkert er Werken der Weltliteratur wie D. H. Lawrences „Lady Chatterley“ zu, die dem jungen Gärtner in der Bibliothek der Heidelberger Villa einmal begegnet sein mögen. Unabhängig von der eigenen Herkunft liegt für alle das Versprechen darin, sich zu einem anderen Menschen lesen zu können.
Martin Kordić: Jahre mit Martha. Roman. S.-Fischer-Verlag. 288 Seiten, 24 Euro.
Autor
Martin Kordić wurde 1983 in Celle geboren und wuchs in Mannheim auf. Er studierte in Hildesheim und Zagreb. Seit über zehn Jahren arbeitet er als Lektor in Buchverlagen, zunächst in Köln, heute in München. Für seinen Debütroman „Wie ich mir das Glück vorstelle“ erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis sowie die Alfred-Döblin-Medaille. Sein zweiter Roman „Jahre mit Martha“ wurde mit dem Tukan-Preis der Stadt München sowie dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet.
Lesung
Am 22. November ist Martin Kordić mit seinem Roman im Literaturhaus Stuttgart zu Gast, zusammen mit Daniela Dröscher. Sie stellt ihren Roman „Lügen über meine Mutter“ vor, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand. Auch darin werden Fragen der Herkunft, der Ausgrenzung und des sozialen Aufstiegs verhandelt.