Uralte Großeltern, eine „verdreihte“ Mutter und die gesamte Komik und Tragik des ländlichen Lebens: Ein 47-jähriger Archäologe aus Kiel kehrt in sein Heimatdorf zurück. Kann das gutgehen?

Stuttgart - Gleich vorweg: In diesem Buch wird Plattdütsch geredet. Nicht die ganze Zeit, aber oft. Wer das nicht lesen mag, wird mit Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“ nicht viel anfangen können. Denn er lebt von diesem Dialekt. Er schwingt in diesem Sound des Ur-Norddeutschen. Und genau so muss es sein und kein bisschen hochdeutscher! Dabei kann man der Autorin keineswegs einen kitschigen Hang zur Nostalgie vorwerfen, obwohl es vor allem um den Abschied geht von einer ländlichen Seinsweise, einem dörflichen Zusammenhalt, einer Art, die Dinge eben auf diese ganz „be-s-timmte“ Weise zu sehen und zu machen. Nein, Rührseligkeit ist da nicht mit „bei“, das Plattdütsche wird hier vielmehr literarisch eingesetzt. Heraus kommt ein Mehrwert im Sinne des berühmten Zitates von Heimito von Doderer: Dass Literatur umso mehr Literatur ist, desto weniger man durch die Wiedergabe des Inhalts einen Eindruck davon zu vermitteln vermag. Der Dialekt in Hansens Roman kann ausdrücken, wie etwas wirklich gemeint oder beschaffen ist, und erweist sich dabei als Diener des Menschlichen innerhalb der Sprache.

 

Ingwer Feddersen, bald 50, lebt immer noch in seiner alten WG in Kiel. Er ist Dozent für Archäologie, macht jetzt aber ein Sabbatical, um seine uralten Großeltern im Dorf Brinkebüll zu pflegen: Oma Ella, von der Demenz in Schach gehalten, und Sönke Feddersen, sein Großvater, der mit über 90 Jahren immer noch hinter dem Tresen seines Dorfkrugs steht und Bier zapft.

Hier im Gasthaus kommen alle zusammen, werden alle Geschichten erzählt, alle Dramen gelindert, hier wird ums Glück gewürfelt und gemeinsam getrauert, wenn ein Kind im Dorf unter die Räder kommt. Jeder gehört dazu, auch Marret, Ingwers „verdreihte“ Mutter, die früher murmelnd und flüsternd über die Moore gestreift ist und singen konnte wie niemand sonst. „Sie war noch nie normal gewesen. Auch nicht verrückt, sie lag wohl irgendwo dazwischen. Ein Knäuel Mensch, verfilzt, schief aufgerollt.“

Präzise Beschreibungen mit herbem Humor

Die Schilderungen der Eigenartigen genauso wie die aller anderen gelingen Dörte Hansen hervorragend. Sie findet treffende Worte, die so schnodderig wie zärtlich den Blick auf das Atmosphärische richten, das von einem Menschen ausgeht. Die Enge des dörflichen Lebens wird mit einem weiten, fast lyrischen Raum umgeben. Hansen schmeißt mit Wortschätzen um sich, dass der Text vor Kostbarkeit klirrt, sie reichert ihre präzisen Beschreibungen mit einem herben Humor an. Bei aller Komik klingt eine leise, derbe Melancholie mit, die dem Vergänglichen des Dorflebens, dem Altern und Sterben und den unterschiedlichen Verlusten eine Art Zauber verleihen. Auch dieser ist nichts, was zu belächeln wäre. Denn bieder und heimatsüßlich ist bei Dörte Hansen nichts. Die Zeit darf fortschreiten, Veränderungen sollen kommen. Aber die Autorin versteht es, dem, was war und gehen wird, ihre eigene Sprache zu leihen.