Niemand ist eine Insel, aber die Vorstellung, sich aus allen Zusammenhängen lösen und vor der erschöpften Welt auf eine Insel retten zu können, hat, seit der englische Dramatiker John Donne jene Wendung zu Beginn des 17. Jahrhunderts prägte, an Dringlichkeit gewonnen. Eine Auswahl entsprechender Lebensentwürfe findet sich in dem Archiv der Künstlerin Helena, einer der beiden Protagonistinnen im neuen Roman von Theresia Enzensberger „Auf See“. Man begegnet darin unter anderem dem schottischen Betrüger Gregor McGregor, der vor 200 Jahren auswanderungswilligen Landsleuten ein fabelhaftes Utopia namens Poyais vertickte. Er machte damit sein Glück – die ihm auf den Leim gingen fuhren dagegen ins Nirgendwo, denn jenes vielversprechende Land gab es nicht. Was Utopien gerne einmal so an sich haben, die sich etymologisch aus dem griechischen Wort für Nicht-Ort ableiten. Und dass sich ihre Verheißungen nicht einlösen, hängt nicht zuletzt häufig mit den Geschäftsinteressen ihrer Initiatoren zusammen.
Das gilt auch für die Seestatt, eine künstliche Insel in der Ostsee, auf der Yada, die zweite Protagonistin des Romans, ihre Jugend verbracht hat, nach einem klösterlich strengen Erziehungsplan, denn natürlich gehört zu einem solchen Unternehmen auch eine pädagogische Provinz. Ihr Vater hat das Projekt mit einer Handvoll reicher Idealisten, Esoteriker und Krisenprofiteuren entwickelt, um sich rechtzeitig vor dem Tag X in Sicherheit zu bringen – und dabei vielleicht noch ein paar Business opportunities wahrzunehmen, wie sie mit einer Sonderwirtschaftszone einhergehen. Womit die erstrebte Unabhängigkeit und Selbstversorgung dem Prinzip der Welt verhaftet bleibt, vor der sich die Siedler abzukehren hofften. Der nachhaltige Neuanfang dockt an die Klassengegensätze an, die die Festlandsgesellschaft immer bizarrer auseinandertreiben. Von einem ausrangierten, ramponierten Kreuzfahrtschiff aus halten unterbezahlte und ausgebeutete Mitarbeiter die stolze Vision in Gang.
Freiheit und Eigennutz
Aus der Verbindung von Selbstoptimierung und Erlösungsbedürfnis schlägt die Künstlerin Helena wiederum ihren eigenen ästhetischen Profit. Sie gründet eine auf libertären Ideologemen fußende Sekte, eine Art soziale Plastik, mit der sie in der Kunstwelt reüssiert, die aber bald beginnt, ein Eigenleben zu führen.
Das sind die losen Enden, die Theresia Enzensbergers für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman zu einem Erzählstrang verknüpft. Von der Ideengeschichte alternativer Gesellschaftsmodelle führt er in eine Gegenwart, die ihre Zukunft bereits hinter sich hat, weil sie unbeirrt den Glaubenssätzen vertraut, die dazu geführt haben, dass ihr das Wasser bis zum Halse steht. Mag jede der insulären Unternehmungen in Helenas Archiv ihren höchst individuellen Untergang haben, so gleichen sie sich darin, wie die ihnen einbeschriebene Freiheitsidee umschlägt in Eigennutz, was zugleich die Begriffsgeschichte des Liberalismus und seiner Ableitungen wie Renaissancen umschreibt. Die Utopie und ihr Gegenteil gehen Hand in Hand.
Mittellos gewordene Mittelschicht
Unter den historischen Exempla findet sich denn auch jene Gründungsszene, als der Ökonom Friedrich von Hajek in der Osterwoche 1947 neununddreißig Wirtschaftswissenschaftler, Journalisten, Historiker und Philosophen in einem Luxushotel auf dem Mont Pèlerin hoch über dem Genfer See zusammengetrommelt hat, um sich mit ihnen auf die Grundlagen dessen zu verständigen, was man seither Neoliberalismus nennt.
Irgendwann strandet Yada in Berlin, eine von Flutkatastrophen und Spekulanten heimgesuchte und nur noch für wenige Privilegierte bewohnbare Stadtlandschaft. Einzig unter den solidarischen Outcasts einer mittellos gewordenen Mittelschicht im Berliner Tierpark zeichnet sich vorübergehend der Umriss einer alternativen, auf Zusammenhalt gegründeten Ordnung ab, jenseits staatlicher Strukturen und ökonomischer Zwänge.
Mit ihrem Debüt „Blaupause“ ist Theresia Enzensberger tief in das weltanschauliche Reform-Biotop des Bauhauses eingetaucht. Nun geht die Erkundungstour weiter auf einer Route die Utopia mit Steuerparadiesen oder Prepper-Communities verbindet. „Auf See“ ist ein hybrides Werk aus Roman und Recherche. Doch wie manches, der darin referierten Modelle, gerät es an der Schnittstelle zwischen Theorie und literarischer Praxis in Schwierigkeiten. Das polemische Feuer, mit dem etwa Sibylle Berg die Sprache ihrer Gegenwartsdiagnosen wütend in Flammen setzt, hält sich hier noch im Aggregatzustand des Papiernen. Es will nicht recht zünden, vielleicht wird einfach auch zu viel geweint. Für die Vermittlung von Wissen, mag das kein Nachteil sein, für die Weise, wie die literarische Widerspiegelung der Wirklichkeit ihren Mehrwert generiert, aber schon.
Gleichwohl unterzieht man sich diesem belletristischen Exkurs nicht ohne Gewinn. Wissend geht die Welt zugrunde. „Auf See“ macht diesen Befund gleich in mehrfacher Hinsicht anschaulich.
Theresia Enzensberger: Auf See. Roman. Hanser Verlag. 272 Seiten, 24 Euro.