Schönheit und Schrecken: Valerie Fritsch stellt sich in ihrem neuen Roman schmerzlichen Erinnerungen. Mit ihrer kunstvollen Bildsprache macht sie Verborgenes sichtbar.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Irgendetwas fehlt immer. Mal sind es ein paar Zehen, die der Großvater im russischen Winter verloren hat. Mal sind es die Details, die aus seiner Erzählung des Krieges eine überzeugende Geschichte gemacht hätten. Und was für die Kleider der Festgesellschaft bei der jährlichen Geburtstagsfeier des alten Mannes gilt, charakterisiert auch die Lebenswelt, in die seine Enkelin hineinwächst: „Nirgends fehlte viel, und doch passte nichts wirklich.“ Als wäre alles nur ein Schauspiel, das man zu ihrer Beruhigung aufführt, um zu verbergen, wie es um die Dinge wirklich bestellt ist.

 

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Es gibt verschiedene Wege, sich an den Abbruchkanten des Lebens zurecht zu finden. Auf dem einen fantasiert man sich zurecht, wie es sein sollte, und droht, versöhnt mit allem in bodenlosen Kitsch abzustürzen. Auf dem anderen blickt man direkt in den Abgrund und realisiert, dass es hier nicht weiter geht. Und dass es neuer Mittel bedarf, sich über den Verlust hinwegzusetzen. In Valerie Fritschs neuem Roman sind das Prothesen aller Art, zum Beispiel „Herzklappen von Johnson & Johnson“, so der Titel. Wie Krückstöcke stützen sie das von unermesslicher Schuld beladene Organ des Großvaters. Schmerz, Schuld, Schweigen hat er aus Krieg und Lagerhaft in Kasachstan mitgebracht. Und wenn daraus nicht eine der bereits vielfach erzählten Familiengeschichten werden soll, ein zu unser aller Beruhigung aufgeführtes Gedächtnistheater, dann muss auch der Text zu Hilfsmitteln greifen, das Verborgene sichtbar zu machen.

Ein Haus wie ein Einmachglas

Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, zählt zu den unverwechselbaren Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auch deshalb, weil der Autorin ihr zweiter Beruf als Fotokünstlerin in die Hände arbeitet. Den Konventionen und Grenzen des Geschichtenerzählens setzt sie eine kunstvolle Bildsprache entgegen, die die Ordnung von Vergangenheit und Gegenwart außer Kraft setzt. Das Haus der Großeltern erscheint wie „eine unterschlagene Welt, ein Hinterzimmeruniversum der Zeit“: „Es war ein Haus wie ein Einmachglas, das noch die entferntesten Jahre haltbar gemacht hatte. Ein Behälter für den alten Schmerz.“

Gegen den Wunsch der Eltern ist die Enkelin Zeichnerin geworden. In dem Raum der Bilder finden die Gespenster der Vergangenheit Platz, die die verstreichende Zeit gerne los werden würde. Nachts schrauben sie sich in die von den Erzählungen der Großmutter gesättigten Träume: greifen mit den weißen Händen fremder Toter durch die Erde, begleitet von Totenvögeln, „Raben, die auf dem kalten Boden nach Schwarzpulver pickten“. Und wie man an solchen ästhetischen Überbelichtungen des Schrecklichen erkennt, ist auch dieser visionäre Weg, einen Roman zu erzählen, bisweilen eine Gratwanderung am Rande edlen Kitsches.

Zu Gast im Museum eines verschwindenden Lebens

Die Abfolge von Ereignissen, aus denen sich über vier Generationen hinweg das Leben einer Familie zusammensetzt, verwandelt Valerie Fritsch in eine Sammlung sprachlich hochaufgelöster Schnappschüsse: Das kathedralisch leere Elternhaus, viel zu groß für einen kleinen Menschen, in dem Vater und Mutter durch die Räume geistern und Vater und Mutter spielen. Das Erzählbiotop im Ohrensessel der Großmutter, die man mit Unglück nicht beeindrucken konnte. Dann die Liebe zu einem Mann, in dessen Leben schon viel kaputt gegangen ist, frühe berauschende Tage der Freiheit, später der Wunsch nach einer „Totmanneinrichtung für die Liebe“, einen Hebel, den Zugführer in regelmäßigen Abständen ziehen, um zu bestätigen, dass sie noch da sind. Schließlich die lastenden Tage, Wochen, Monate einer Wochenbettdepression, zu Gast im Museum eines verschwindenden Lebens.

Immun gegen das Leiden

„Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte des Schmerzes“ – dieser Satz von Nabokov steht dem Roman voran. Erst der Urenkel bricht dieses Gesetz, wenn auch beinahe um den Preis des eigenen Lebens. Eine merkwürdige Krankheit hat ihn gegen körperliches Leiden unempfindlich gemacht. Er kennt es nur aus Erzählungen, woraus eine eigene Form der Gefährdung resultiert. Denn Schmerz ist ein Teil des Lebens, das lehrt dieser Roman. Irgendetwas fehlt immer. Ohne die Prothesen von Kunst und Literatur wäre das nicht auszuhalten.

Info und Termin

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson. Roman. Suhrkamp Verlag. 174 Seiten, 22 Euro.

Termin: An diesem Dienstag, um 19.30 Uhr, stellt Valerie Fritsch ihren Roman in der Stadtbücherei Stuttgart vor. Einlass nur mit bestätigter Reservierung, Telefon: 0711-21696527, E-Mail: karten.stadtbibliothek@stuttgart.de