Wolfgang Schorlau bringt in „Kreuzberg Blues“ die Machenschaften der Immobilienbranche auf seine investigative Krimi-Bühne. Denglers zehnter Fall führt den Stuttgarter Privatermittler nach Berlin. An diesem Freitag stellt er seinen Roman im Stuttgarter Literaturhaus per Livestream vor.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Ratten rühren an tiefsitzende Ekelaffekte, sie gelten als schlau, gefährlich und unersättlich. Auf der allgemeinen Beliebtheitsskala dürften sie etwa auf einer Stufe rangieren mit Heuschrecken, zumindest wenn man darunter Großinvestoren versteht, wie sie in Wolfgang Schorlaus neuem Dengler-Roman den Berliner Wohnungsmarkt abgrasen.

 

Und doch spielen in diesem „Kreuzberg Blues“, dem zehnten Fall des Stuttgarter Privatermittlers Georg Dengler, Ratten eine tragende Rolle, und zwar solche von der widerwärtigsten, weil aggressivsten Sorte. Sie werden in einem Mietshaus ausgesetzt, das einem der großen Immobilienkonzerne gehört, um die Bewohner zum Auszug zu bewegen, damit die frei gewordenen Wohnungen teurer weitervermietet werden können.

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Renditen sind der Speck, der die Gier von Leuten anstachelt wie jenem aus bester Stuttgarter Halbhöhenlage stammenden Karrieristen, der es mit Niedertracht und Skrupellosigkeit an die Spitze der Deutsche Eigentum AG geschafft hat. Und es ist sicher kein physiognomischer Zufall, dass in Momenten der Anspannung über seiner dicken Unterlippe die beiden oberen Schneidezähne sichtbar werden.

Eines der Rattenopfer ist mit Denglers Partnerin Olga befreundet. Und so gerät der Stuttgarter Detektiv nach Berlin, um die Hintergründe einer Plage auszuleuchten, die nicht nur den Wohnungsmarkt der Hauptstadt befallen hat. Wer seinen Ermittlungen folgt, kennt am Ende das Geschäftsmodell von Baulöwen und Entmietungsagenturen, er versteht, warum in den Städten Wohnen immer teuer wird, bis es sich nur noch die Langweiligen und die Reichen leisten können. Und er kann nachvollziehen, weshalb der Senat einen Mietendeckel beschlossen hat und die Berliner im nächsten Jahr über eine Enteignung profitorientierter Immobiliengesellschaften abstimmen dürfen.

Hygienedemonstranten und rechte Verschwörer

Doch Denglers Operationsgebiet ist durchzogen von dunklen Verbindungsgängen, die das Gemeinwesen noch von anderer Seite unterwandern. In einer Villa am Wannsee konspiriert ein finsterer Bund, eine Art Nachfolgezirkel der berüchtigten Organisation Gehlen, die ein linksversifftes Deutschland mit geheimdienstlichen Operationen unter den Einfluss einer nationalen rechten Alternative bringen will. Die Verachtung für Politik und Parlamentarismus eint die Mitglieder, zu denen auch ein ehemaliger Verfassungsschutzpräsident namens Meesen gehört. Eine Enteignungsbewegung ist ihnen im Wortsinn ein rotes Tuch.

Und dann kommt Corona. Mit der sich ausbreitenden Pandemie verlagert sich das Interesse der rechten Verschwörer darauf, unter Hygienedemonstranten Anhänger für die nationale Bewegung zu rekrutieren. Irgendwann versuchen Reichskriegsflaggen schwenkende Aufrührer, das Parlament zu stürmen. Wir sind im Hier und Jetzt, und Wolfgang Schorlau schreibt mit. Während Dengler also seine Fälle löst, sich vorübergehend undercover einem der üblen Player andient, die das Menschenrecht auf Wohnen leichtfertig verspielen, ordnet sein Autor die Welt.

Ausgeburten des Bösen

Wolfgang Schorlaus Romane treiben Journalismus mit anderen Mitteln. Sie halten die Idee einer vierten Gewalt aufrecht und zerren die Mächte, die unser Leben bestimmen, allen voran das Geld, auf ihre investigative Bühne. Darin liegt ihr aufklärerisches Ethos. Doch auch wenn sie ihre Quellen transparent machen, nutzen sie Lizenzen, die über die des Journalismus weit hinausgehen. Es sind die des allwissenden Erzählers, der eben nicht nur über Tatsachen, sondern auch über die Mittel ihrer Einbettung verfügt – und damit über das Wissen von Gut und Böse.

Aus seinen Erkenntnissen, Recherchen und Lesefrüchten formt Schorlau eine Welt von eigener Evidenz. Alles, was ihm unterkommt, findet darin Platz, oft kann man mitgoogeln, was seine notdürftig fiktional verpackten Figuren im wirklichen Leben getrieben haben. Der über allem schwebende Geist poetischer Gerechtigkeit hält über sie Gericht: zu seiner Linken die Guten, zu seiner Rechten Gestalten wie jener rattenhafte Immobilienmanager, eine fleischgewordene Theweleit’sche Männerfantasie.

Dabei kommt es zu merkwürdigen Spiegeleffekten. Wo in den USA der „tiefe Staat“ zum Arsenal rechter Propaganda gehört, wird er hier – von der anderen Seite aus – in besagtem finsterem Männerbund aus Geheimdienstlern, Ministerialbeamten, ehemaligen Verfassungsschützern und KSK-Soldaten skizziert. Wie ein dunkler Schatten schauen Dengler, dem Partisanen der Anständigkeit, die Ausgeburten des Bösen über die Schulter: Darauf, dass etwas grundsätzlich faul sei, könnten sich vermutlich beide einigen.

Auserklärtes Weltbild

Doch anders als die Bösen legt Schorlau die Karten auf den Tisch. An jeder Ecke ist ein Erklärbär postiert, der zufällig gerade ein Impulsreferat zum jeweiligen Themenkomplex parat hat: wie 270 Jahre Kapitalismus 200 000 Jahre Homo sapiens in kürzester Zeit an die Wand gefahren haben; warum anthroposophische Impfgegner ein gefundenes Fressen für alle sind, die aus der Corona-Krise ihr eigenes Süppchen kochen wollen – namentlich darüber wird man in Denglers Heimatstandort besonders begeistert sein. Und um das Dickicht im Dschungelkampf der Immobilienbranche zu lichten, hat Schorlau die Powerpoint-Präsentation literaturfähig gemacht.

Einerseits kann man sagen, dass es in einer Zeit großer Krisen, in der viele Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten, einer klaren Positionierung bedarf. Andererseits: Ist ein derart geschlossen auserklärtes Weltbild wirklich das geeignete Mittel, eine in unversöhnliche Lager auseinanderbrechende Gesellschaft wieder näher zusammenzubringen? Über diesen Zwiespalt trägt eine spannende Handlung hinweg. Problematisch aber wird es, wenn Dengler sich am Schluss von der Urteilsgewissheit des Erzählers anstecken lässt. „Wenn ich wählen muss zwischen Recht und Gerechtigkeit“, sagt der Ermittler, „wähle ich Gerechtigkeit.“ Je größer die Überzeugung, desto kleiner der Schritt von Selbstgerechtigkeit zu Selbstjustiz. Menschen mit Ratten gleichzusetzen sollte als Grundlage dafür nicht ausreichen.

Wolfgang Schorlau: Kreuzberg Blues. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 416 Seiten, 22 Euro. Ab 5. November im Handel.