Kurz bevor der Corona-Lockdown die Welt zum Stillstand bringen wird, kündigt Mirabai Schöckle ihren Job und eröffnet im Frühjahr ein Reisebüro in Stuttgart. Jetzt erwartet sie ein Kind – und trotzt der Pandemie.

Digital Desk: Jonas Schöll (jo)

Stuttgart - Angefangen hat alles in den Flitterwochen. Auf Bora Bora in der Südsee fasst Mirabai Schöckle einen Entschluss, der ihr Leben verändern wird. Im Morgengrauen ist die Stuttgarterin aufgewacht, um mit ihrem Mann den Sonnenaufgang am Mont Otemanu zu bestaunen. Als sich die riesige Kugel hinter dem Gipfel des einstigen Vulkans emporschiebt, kullern Tränen aus ihren Augen. Für die heute 31-Jährige geht ein Wunsch in Erfüllung: „Das war mein absolutes Bucket-List-Erlebnis“, erinnert sich Mirabai, die geduzt werden möchte, an ihren Urlaub im vergangenen Jahr. „In diesem Moment war mir klar: Ich möchte Menschen an solche magischen Orte bringen.“ Ihren großen Traum will die Tourismusfachwirtin nicht länger aufschieben: Ihr eigenes Reisebüro für außergewöhnliche Urlaubserlebnisse. Der Berg, auf den sie blickt, sollte ihr Firmenlogo werden, auch einen Namen hat Mirabai schon im Kopf: „Bucket List Reisen“, eine Anspielung an eine Wunschliste mit Dingen, die man unbedingt noch erleben will.

 

Reisebüro kurz vor dem Lockdown eröffnet

Dass die Corona-Pandemie nur wenige Monate später die Welt heimsucht und das Vorhaben der jungen Gründerin auf den Kopf stellt, ahnt Mirabai im Herbst 2019 nicht. Für ihren Traum von der Selbstständigkeit geht sie voll ins Risiko: Nach 13 Jahren hängt sie im Dezember ihren gut bezahlten Job in einem Reisebüro an den Nagel. Am 16. März – kurz bevor der Corona-Lockdown das Land zum Stillstand bringt – eröffnet sie ihr Geschäft Süden im der Stadt. Für ihr „Baby“, wie sie es liebevoll nennt, geht die Firmengründerin ans Ersparte. Unterstützung bekommt sie von ihrem Mann, der in einem Ingenieurbüro in Heilbronn arbeitet. „Ich habe Gott sei Dank keine großen Kredite aufnehmen müssen“, sagt Mirabai, „sonst hätte ich jetzt einen ganz anderen Druck.“ Den ersten Mitarbeiter wollte sie im Januar kommenden Jahres einstellen: „Aber diesen Plan hat Corona zunichtegemacht.“

Auch jetzt nach dem zweiten Lockdown verliert die schlagfertige Schwäbin ihren Humor nicht: „Ich bin eine One-Woman-Show“, erzählt die 31-Jährige, die jetzt auch noch im siebten Monat schwanger ist. Die Freude über den Familienzuwachs habe ihr geholfen, in der schwierigen Zeit der Pandemie positiv gestimmt zu bleiben. Und Optimismus ist im Corona-Jahr gefragt, denn das Virus trifft die Stuttgarter Unternehmerin mit voller Wucht: Reisewarnungen, Quarantänevorschriften, Stornierungen und Umbuchungen brechen über die Branche ein. Der Deutsche Reiseverband rechnet für den Zeitraum von März bis zum Jahresende mit einem Umsatzeinbruch von mehr als 28 Milliarden Euro bei Reiseveranstaltern und Reisebüros. Das entspricht einem Rückgang von rund 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In der Corona-Pandemie müssen selbst große Traditionsunternehmen ums Überleben kämpfen.

Von der Politik im Stich gelassen

Noch schwieriger ist die Situation für Menschen wie Mirabai, die ihre Firma nach dem 31. Oktober gegründet haben: Sie hatten bislang keinen Anspruch auf die sogenannte Corona-Überbrückungshilfe der Regierung. Ebenso wenig stand der Stuttgarterin der vom Land gezahlte fiktive Unternehmerlohn zu. „Das betrifft ganz viele Newcomer und Start-ups. Ich fühle mich von der Regierung im Stich gelassen“, sagt Mirabai. Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) räumt ein: „Wir haben diese Förderlücke bereits als sehr problematisch erkannt.“ Das Ministerium setze sich sich mit Nachdruck dafür ein, dass die Förderbedingungen erweitert werden. Derzeit sei keine Änderung vorgesehen. Mit dem Bundesprogramm werden die regelmäßig anfallenden Fixkosten von Unternehmen erstattet. Ihre geschäftlichen Ausgaben beziffert Mirabai auf rund 1000 Euro im Monat, darunter fallen etwa die Miete für das Reisebüro und Kosten für Lizenzen. Bis Mitte kommenden Jahres kann sie das mit eigenen Mitteln noch schultern – dann wird es düster. Der erneute Lockdown macht die Situation nicht einfacher.

Obwohl ihre Briefe in dieser Sache an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Olaf Scholz bislang zu nichts führten – Aufgeben ist keine Option für die ehrgeizige Stuttgarterin. Ihr Kämpferherz bewies sie bereits in der Gründungsphase ihres Reisebüros: „Im Januar und Februar hatte ich gefühlt 16-Stunden-Tage. Die Doppelbelastung war der Wahnsinn“, erinnert sich Mirabai. Im Feierabend kümmert sie sich um ihr Geschäft, das nur wenige Fußminuten von ihrer alten Arbeitsstelle entfernt liegt. Sie arbeitet bis tief in die Nacht, bastelt eine Homepage, feilt an den Auftritten in sozialen Netzwerken, fädelt Deals ein mit Airlines, Hotels und weiteren Vertragspartnern. Die ersten Aufträge kommen rein: Ein großer Familienurlaub in Südafrika, Gruppenreisen, Honeymooner – Corona macht alles zunichte.

Auf Tuchfühlung mit Haien gehen

Auch dem zweiten Lockdown zum Trotz hat Mirabai ihren Abschied vom Angestellten-Dasein nie bereut. „Die Menschen lieben das Reisen und es wird in Zukunft wieder möglich sein“, ist sie überzeugt. Gerade in Zeiten von Lockdown und Ausgangssperren zeige sich der Wunsch vieler Menschen, die Welt zu erkunden. In ihrem Reisebüro setzt die Schwäbin auf persönliche Beratung und ausgefallene Urlaubserlebnisse – etwa Schnorcheln mit Buckelwalen, auf Tuchfühlung gehen mit Haien oder ungewöhnliche Hotels in der Südsee, die sich sozial engagieren oder nachhaltig sind. „Wir arbeiten alle viel zu viel, um uns mit einem Pauschalurlaub aus dem Katalog abzufinden“, sagt die Reiseexpertin. „Jeder sollte eine Bucket List voller Träume und Erlebnisse haben.“ Von solchen Erinnerungen könne man schließlich auch in Krisenzeiten zehren. So tankt sie auch für den zweiten Lockdown Kraft, beim Gedanken an den Sonnenaufgang am Mont Otemanu.