Mangold stellt den österreichischen Autor als jemanden vor, dessen Werk sich maximal weit von der traditionellen Buchkultur und ihren Lektürepraktiken entfernt und neuen medialen Repräsentationsformen geöffnet habe. Dieser Befund steht eigentümlich quer zur Freude über die Wiederkehr des Analogen, die der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Ernst Osterkamp, verströmt. Nachdem im letzten Jahr der Festakt aus viralen Gründen nur in digitaler Form stattfinden konnte, ist der Saal dieses Mal mit artig maskierten Nobilitäten aus Kunst und Wissenschaft wieder gut gefüllt.
Welche Sprache spricht Gott?
In seiner Dankesrede wird Clemens J. Setz später an die Jahrmarktszene in Georg Büchners „Woyzeck“ anknüpfen, in der der Ausrufer dem Publikum ein dressiertes Pferd vorstellt. Im Werk des Dichters, in dessen Namen er nun geehrt werde, sei diese Szene einer Preisverleihung am ähnlichsten. Würde man sich diese Sicht zu eigen machen, käme dem Literaturwissenschaftler Osterkamp wohl die Rolle des Ausrufers zu, der die besten Pferdchen im Stall der Akademie präsentiert: „Sind Liebling von alle Potentate Europas und Mitglied von alle gelehrte Sozietät; weissage de Leute alles, wie alt, wie viel Kinder, was für Krankheit“, wie das in Büchners Drama heißt.
Denn außer Setz zeichnet die gelehrte Sozietät in Darmstadt den ebenfalls aus Österreich stammenden Publizisten Franz Schuh aus. Er wird mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay geehrt. In seiner Dankesrede denkt er über den Satz nach „Kunst sei die Eschatologie der Wirklichkeit im Hinblick auf die Aporien derselben“. Und was immer das auch bedeutet – man ist nach seinem Vortrag fest davon überzeugt, dass Österreichisch die Sprache des Geistes ist. Dagegen legt der mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnete Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf dar, dass Gott selbst nach der katholischen Lehre weder Hebräisch noch Griechisch, geschweige den Österreichisch spreche, sondern Latein.
Seltsamkeit mit sehr vielen Haaren
Wie aber steht es um die Sprache jenes „astronomischen Pferdes“, dessen Vernunftbegabtheit in der Jahrmarktszene von Büchners Drama zur Schau gestellt wird? Solche Tiere, die den erstaunten Zuschauern mittels Klopfen ihres Vorderhufs erstaunliche Rechen- ja sogar Buchstabierleistungen vorführen konnten, waren keine Seltenheit und haben auch bei Kafka und Rilke ihre Spuren hinterlassen.
Clemens J. Setz, der mit ins Gesicht gezogener Schiebermütze und ungeheurem Bart mittlerweile selbst wie eine Figur aus einer seiner Geschichten erscheint, eine Seltsamkeit mit sehr vielen Haaren, heftet sich an die Hufen des Tierpsychologen Karl Krall. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hat dieser in geduldiger Übung seine Pferde alphabetisiert. Vorgesprochene Wörter beantworten sie mit Klopfzeichen. Doch nicht nur das: Sie können auch berühmte Schriftsteller und Philosophen erkennen. Und irgendwann benennen die Tiere nicht nur Geheimräte und Möhren korrekt, sondern fordern von ihrem Gegenüber mehr: „ulklären“ – erklären.
Predigt an Außerirdische
Es hat eine nachdenkliche Komik, dieser merkwürdigen Konversation zwischen Ross und Reiter zu folgen, die allerdings mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ins Tragische kippt: Kralls Pferde werden zum Kriegsdienst eingezogen. Setz malt aus, wie der Tierpsychologe wohl versucht haben mag, ihnen zu „ulklären“, was auf sie zukommt. „Den Zählpferden erklären, was Krieg ist. Das ist für mich das geheime Herz aller Erzählkunst“, sagt Setz. „Jeder Mensch, der Geschichten erzählen will, muss auch an Außerirdische predigen können.“
Wie ein Trojaner entfaltet die Geschichte, die der computeraffine Autor in die Festgesellschaft schmuggelt, ein poetologisches Programm: dass die fremden Wesen der Literatur, die Abweichenden, Sonderbaren, gewissermaßen mit den Füßen abtasten, wovon wir verschont zu bleiben wünschen. Womit wir wieder bei Franz Schuh wären: Vermutlich ist es genau das, was er mit seinem Satz über den Zusammenhang von Eschatologie und Aporie ausdrücken wollte.