Der diesjährige Büchnerpreis geht an Elke Erb. Die 82-Jährige war bisher vor allem Insidern ein Begriff. Das könnte sich nun ändern. Denn ihr Schaffen hat Generationen von Lyrikern und Lyrikerinnen geprägt.
Stuttgart - Es gab eine Zeit, da war der typische Büchnerpreisträger zwischen 60 und 80 Jahren alt. Es waren graue zumeist männliche Eminenzen, die da von der ehrwürdigen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt aufs Podest gehoben wurden, um sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen oder den Staub von den Schultern zu blasen. Seit einigen Jahren hat sich dies geändert. Wo es sonst eher um die feierliche Einsargung von Lebenswerken ging, loderte plötzlich die Flamme des Aufbruchs, wofür Namen wie Felicitas Hoppe, Rainald Goetz, Terezia Mora oder im letzten Jahr der Schweizer Lukas Bärfuss standen.
In diesem Licht mag die diesjährige Entscheidung für die 82-jährige Lyrikerin Elke Erb wie ein Rückfall erscheinen, auch wenn mit ihr immerhin mal wieder eine Frau mit dem wichtigsten deutschen Literaturpreis bedacht wurde – erst die elfte in der knapp 70-jährigen Geschichte der Auszeichnung.
Doch der Eindruck täuscht, wie jeder Eindruck, der sich von Äußerlichkeiten aller Art bestechen lässt. Denn wenn in den letzten Jahren ein wiedererwachtes Interesse an Lyrik zu verzeichnen war, dann hat daran die 1938 in der Eifel geborene und in der DDR aufgewachsene Elke Erb entscheidenden Anteil. Kaum jemand unter den gefeierten jungen Lyrikerinnen und Lyriker, die gerade in Zeiten des populistischen Sprachverschleißes ihrer Sehnsucht nach einem unverbrauchten Ausdrucksmittel literarische Gestalt verleihen, der Elke Erb nicht Wesentliches verdanken würde.
Sie verlangt dem Leser einige ab
Für die Generation um Marion Poschmann, Monika Rinck, Nico Bleutge oder Ulf Stolterfoht ist Elke Erb längst eine Säulenheilige, die nun endlich dort steht, wo sie längst hingehört. Die 1938 in Scherbach geborene Autorin war 1949 mit ihrer Familie nach Halle an der Saale gezogen, sodass die Elfjährige die DDR als ihren ersten „Kopfboden“ erlebte. Nach Jahren als Landarbeiterin, nach dem Studium der Germanistik, Slawistik, Geschichte und Pädagogik in Halle sowie einer Anstellung als Lektorin beim Mitteldeutschen Verlag debütierte sie 1966 in der von Karl Mickel und ihrem Mann Adolf Endler herausgegebenen Anthologie „In diesem besseren Land“. Mit den Gedichtbänden „Vexierbild“ (1983) und „Kastanienallee“ (1987) wurde sie bekannt und in der ostdeutschen Dichterszene zur Integrationsfigur. In den achtziger Jahren unterstützte sie die unabhängige Friedensbewegung, was zur Überwachung durch den Staatssicherheitsdienst führte.
Wer einen Zugang zu dem eigentümlichen, von Intellekt und Witz nur so sprühenden poetischen Reich Elke Erbs sucht, sei an ihre Handwerks-Notizen verwiesen, „Gedichte und Kommentare“: Vers für Vers, manchmal Wort für Wort führen diese Aufzeichnungen darauf hin, was die Dichterin einmal so formuliert: „Poesie ist schlichthin Glück.“
Diesem Glück zu folgen, hat nichts mit Weltflucht zu tun. Und, das soll nicht verschwiegen werden, es verlangt dem Leser einiges ab. Denn leicht erschließen lassen sich Elke Erbs Texte nicht. Was sich aber von ihr lernen lässt, ist, dass die Wirklichkeit und die Eigengesetzlichkeit der Wörter einen geheimen Austausch pflegen. Und dass es sich lohnt, hier genau hinzuhören. Jede eingespielte Wahrnehmung kommt auf den Prüfstand, und zugleich wird dieser Prozess kommentiert. So in dem Gedicht „Übung“: „Windig. / Wie komme ich dazu, aus etwas (etwas ‚Gegebenem’, wie man sagt, immer noch) Worte zu machen? / Windig. Und kühl.“ Das Gedicht „Sitzplatz“ beginnt so: „Komme an den Bhf erkenne plötzlich / eine (broschenförmige) Ähnlichkeit meines Hingehns / zu diesem Nichts, einem Bhf.“ Der Prozess der Korrektur und Differenzierung kann sich über Jahre erstrecken und von Buch zu Buch überlaufen. So eröffnet das 2019 erschienene Buch „Gedichtverdacht“ ein Gespräch mit früheren Texten.
Vorschule für den Büchner-Preis
Wie eine Leimrute legt der Band „Sonanz“ Fünf-Minuten-Notate in der Zeit aus, dahin geschriebene Einfälle, die sie daraufhin untersucht, was daran an Signifikantem und Thematischem haften bleibt. Und vielleicht ist es genau dieses lebenslange Experimentieren in ihrem lyrischen Sprachlabor, was so viele jüngere Autorinnen und Autoren fasziniert. Und wie viel im Licht dieser ungebrochenen Unternehmungslust 82 Jahre wiegen, mag man Zeilen wie diesen entnehmen: „Das eintretende Alter erheiterte mich / mit einer neuen Neugier und der Lust, / die Nase in Dinge zu stecken, die einen gar nichts angehen, / zum Beispiel Diverses von Pflanzen: / Heimat in Mittelasien. So? / Hat eine Pfahlwurzel, ach?“
Unter den vielen Preisen, die die Dichterin bereits erhalten hat, ohne damit einer breiteren Öffentlichkeit wirklich bekannt zu werden, war 2018 auch der Mörike-Preis der Stadt Fellbach. Schon dreimal war für die mit dieser Auszeichnung Geehrten der Büchner-Preis die nächste Station: 1991 für Wolf Biermann, 2005 für Brigitte Kronauer, 2017 für Jan Wagner. Nun also Elke Erb. Man wird künftig genauer hinschauen, wer in Fellbach erwählt wird. Nächstes Jahr ist es wieder so weit.
Am 31. Oktober wird der mit 50 000 Euro dotierte Büchnerpreis in Darmstadt verliehen. Wer Elke Erb schon einmal erlebt hat, weiß: ein Spaziergang wird es wohl nicht werden. Aber Spazieren gegangen ist man in diesem Corona-Jahr schon weiß Gott genug.