Nach 30 Jahren in den Zuschauerrängen werden die Bürger des Vaihinger Stadtteils Enzweihingen erstmals beteiligt: was halten die Bürger von einer Umfahrung oder einem Kurztunnel zur Entlastung des verkehrsgeplagten Ortes?

Vaihingen/Enz - Die Basisdemokratie kommt nach Enzweihingen. Aber sie wird wohl mit etwas Verspätung eintreffen. Im Frühjahr, so die ursprüngliche Verheißung der Stadtverwaltung, sollten die Bürger des Stadtteils von Vaihingen/Enz die Zuschauerränge verlassen und selbst mitspielen bei einem Theaterstück, das schon seit weit mehr als 30 Jahren läuft.

 

Es geht um eine Verkehrsentlastung für den Ort, der von der B 10 buchstäblich zerschnitten wird. Stadträte, Bürgermeister, Ortsvorsteher, Minister, Landes- und Bundespolitiker – praktisch jeder hat sich in dieser Sache bereits geäußert. Mit Ausnahme der Betroffenen selbst. Jetzt hat der Vaihinger Oberbürgermeister angekündigt, die Enzweihinger per rechtlich unverbindlicher Bürgerbefragung selbst zu Wort kommen zu lassen. Weil die Planer des Regierungspräsidiums Stuttgart erst im April Näheres über die beiden Varianten – Umfahrung oder Kurztunnel – wissen, will der Rathauschef Gerd Maisch die Befragung nun parallel zur Bundestagswahl am 22. September laufen lassen. „Dann hätten wir eine hohe Beteiligung und ein Votum hoffentlich aller Enzweihinger.“

Der OB hofft auf „ein deutliches Signal“

Seit der Ankündigung fragen sich viele in der Stadt, warum sich ausgerechnet der Vaihinger OB binnen weniger Jahre vom klassischen Kommunalpolitiker, der direktdemokratischen Elementen eher skeptisch gegenüberzustehen scheint, zum Vorreiter der Bürgerbeteiligung mausern konnte. Beim ersten Bürgerentscheid der Stadtgeschichte im Jahr 2009 hatte die Verwaltung der Bürgerinitiative, die das Verfahren ins Rollen gebracht hatte, einige Steine in den Weg gelegt.

Es ging um die Frage, ob aus dem stillgelegten Industriebahngleis, der alten WEG-Trasse, ein verkehrsgünstiger Radweg werden könne. Der OB tat, was er konnte, um das Ansinnen zu bremsen – schlechter Zeitpunkt, leere Stadtkasse, die üblichen Argumente. Maisch selbst sieht in seiner Idee einer Bürgerbefragung in Enzweihingen keinen Widerspruch zu seiner früheren Haltung. Er gibt unumwunden zu, dass er das Instrument der Beteiligung auch aus taktischen Gründen nutzt. Er erhoffe sich „ein deutliches Signal in Richtung Bundesverkehrsministerium und Land, dass der Ort endlich eine Entlastung braucht“.

„Rundweg positiv zu sehen“

Einen Missbrauch des Bürgerwillens als politisches Instrument vermag auch die Initiative Mehr Demokratie keineswegs zu erkennen. Einzelne Protagonisten just jenes Vereins hatten sich 2009 noch kritisch zur widerborstigen Haltung der Stadtverwaltung zum Bürgerentscheid geäußert. Die jetzige Bürgerbefragung sei aber „rundweg positiv zu sehen“, sagt Edgar Wunder. Der Soziologe und Fachmann für kommunale Basisdemokratie hält die unverbindliche Bürgerbefragung, so wie sie in Enzweihingen stattfinden soll, für ein Zukunftsmodell. „Das, was dabei herauskommt, hat schon Gewicht.“ Das gelte auch, wenn, wie im Vaihinger Fall, die Entscheidungsträger nicht im Ort säßen.

Der Enzweihinger Ortsvorsteher teilt diese Ansicht. „Ich finde das richtig toll“, sagt Matthias Siehler. Er rechne mit einer hohen Beteiligung der rund 2500 Abstimmungsberechtigten. Jahrzehntelang habe sich niemand für die Meinung der Enzweihinger interessiert. „Bei vielen ist der Frust ziemlich groß, vielleicht kommt damit wieder ein bisschen Hoffnung zurück.“ Kritiker behaupten zwar, dass der OB nur Enz-weihingen befrage und nicht auch die benachbarte Kernstadt Vaihingen, weil er damit ein klares Votum für die von ihm tendenziell bevorzugte Umfahrung bekomme. Siehler sieht das anders. „Die Meinung in Enzweihingen ist nicht eindeutig.“

Direktes Mitwirken ist kaum vorgesehen

Partizipation - Die grün-rote Politikwende hat der direkten Demokratie im Kommunalen keinen Schub gebracht. Seit dem Regierungswechsel im Land gebe es „mehr Gespräche und mehr offene Ohren“, sagt Edgar Wunder, Vorstandsmitglied der Initiative Mehr Demokratie, „aber passiert ist bislang nichts“. Zum Beispiel beim Thema Bürgerbefragung. Solche unverbindlichen Anhörungen der Bürger seien „politische Bildungsveranstaltungen“, die „die Debatte im Ort befeuern“.

Allein: dafür gebe es noch keinerlei formale Kanäle. „Im Augenblick sind die Bürger reine Bittsteller“, sagt Edgar Wunder. Um das zu ändern, müsse ein Mitspracheantrag in der Gemeindeordnung verankert werden. Mit relativ wenigen Unterstützerunterschriften könnten die Bürger dadurch „gehört werden, wenn sie es wollen“.

Die Kommunen experimentieren

Noch bis in die 70er Jahre hinein hätten sich Rathauschefs häufiger dieses Instruments bedient, etwa bei Fragen der Eingemeindung. Fälle wie Enzweihingen gebe es erst seit wenigen Jahren wieder vereinzelt. „Es gibt da gerade so etwas wie eine Experimentierphase“, sagt Wunder.

Ein Blick in die Gemeindeordnung zeigt, dass der Geist der Kommunalpolitik in Baden-Württemberg noch immer von einer gewissen Skepsis bezüglich direkter Mitwirkung des Bürgers geprägt ist. Zentraler Spieler in diesem Modell ist der Gemeinderat. Dieser wird zwar alle vier Jahre von den Bürgern neu gewählt, in der Zwischenzeit können die Repräsentanten aber weitgehend schalten und walten, wie sie wollen. Oder wie der Bürgermeister will. Der Rathauschef ist im Südwesten so stark wie nirgendwo sonst in der Republik. Er wird für acht Jahre gewählt, ist vom Gemeinderat unabhängig und kann nur wegen besonders schwerer Verfehlungen sein Amt verlieren. Zudem ist er Vorsitzender des Gemeinderats und hat als Chef der Kommunalverwaltung stets einen gehörigen Informationsvorsprung. Die Gemeindeordnung zeichnet ein Bild des Bürgermeisters als guter Hirte einer mehr oder weniger wilden Herde von Stadträten.

Die Betroffenen sind oft die Statisten

Der Bürger spielt in diesem Bild nur eine Statistenrolle. Er kann zwar Bürgerbegehren auf den Weg bringen und damit den Gemeinderat zu einer Abstimmung zwingen oder per Bürgerentscheid selbst abstimmen. Doch die Hürden dafür sind enorm hoch, anders als in Bayern sind zudem zentrale Bereiche, wie etwa die kommunale Bauplanung, davon ausgenommen.

Instrumente wie der Bürgerantrag, der Themen auf die Tagesordnung des Gemeinderats setzen kann, und Bürgerversammlungen, die zwei Wochen nach einer Entscheidung anberaumt werden können, hält Edgar Wunder für „unsinnige Papiertiger“. Das Innenministerium wiederum sieht die Forderung nach einem Mitspracheantrag offenbar eher skeptisch: „Die Gemeindeordnung sieht bereits einen Bürgerantrag vor, bei dem der Gemeinderat ein bestimmtes Thema behandelt“, teilt der Pressesprecher Andreas Schanz mit.

Kommentar: Mehr Mut!

Beteiligung - Die Idee ist so naheliegend, dass man sich unweigerlich fragt: Warum um Himmels willen ist noch niemand auf die Idee gekommen, die Enzweihinger nach ihrer Meinung zu fragen? Mehr als drei Jahrzehnte lang wurde viel lamentiert, diskutiert und philosophiert über die Frage, was den Betroffenen am meisten hilft gegen die wüste Blechlawine, die (werk-)täglich durch den Ort donnert. Dem Vaihinger Oberbürgermeister gebührt Respekt dafür, dieses Ungleichgewicht erkannt zu haben – und es mit einer unverbindlichen Bürgerbefragung beheben zu wollen.

Allein: es spricht schon Bände für unsere kommunalpolitische Kultur, dass dieser Punkt so lange unerkannt blieb. Und behoben wird diese Panne jetzt mit einer seltsamen Konstruktion – einer von oben verordneten Basisdemokratie, Partizipation nach Laune des Chefs quasi. Auch wenn Maisch es nicht offen sagt: die Vermutung liegt nahe, dass er auf eine große Mehrheit für die Umfahrung hofft. Er wird sich dabei aber dennoch des Risikos bewusst sein, dass er das Bürgervotum im Falle eines anderen Ergebnisses auch schlucken muss.

Enzweihingen ist ein Einzelfall – schade eigentlich!

Bedauerlich an der Diskussion ist eigentlich nur eines: dass die Enzweihinger Befragung eine Ausnahme ist. Beim Thema Bürgerbeteiligung fehlt es den allermeisten Verantwortlichen an Experimentierfreude. Die Debatte über die Erhaltung eines Bolzplatzes in Asperg hätte nicht so eskalieren müssen, wenn die Stadt die Bürger früher nach ihrer Meinung gefragt hätte. Auch die Pleidelsheimer Verwaltung hätte sich viel Ärger wegen ihrer Nordumfahrung ersparen können, hätte sie die Debatte nicht so lange ohne die Bürger geführt. In beiden Fällen war der Ärger groß genug, um einen Bürgerentscheid zu bewirken. Das zeigt, dass die Zeit überreif ist für neue, niederschwellige Formen der Beteiligung. Wer das, auch als Landesregierung, zu lange ignoriert, wird es in Zukunft wohl verstärkt mit Wutbürgern zu tun bekommen.