Staatsrätin Gisela Erler (Grüne) soll der Bürgergesellschaft Form und Inhalt geben. Doch vieles ist noch Stückwerk.

Stuttgart - Gisela Erler hadert. Ploppte doch die Pleite mit dem Filderdialog ausgerechnet an jenem Tag hoch, an dem sie zu einem großen Kongress über Bürgerbeteiligung nach Stuttgart gerufen hatte. Am nächsten Tag fand sich in den Zeitungen eher wenig über die zahlreichen bürgerschaftlichen Aktivitäten, die im Haus der Wirtschaft vorgestellt worden waren; breiten Raum nahmen dafür die handwerklichen Unzulänglichkeiten bei der Vorbereitung des Beteiligungsverfahrens zum künftigen Flughafenbahnhof ein.

 

Doch die Aufgabe, vor der sich die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung gestellt sieht, ist größer. Größer sogar als Stuttgart 21 mit all den Emotionen, die sich immer noch um das Projekt ranken. Es geht um nichts weniger als um die Integration von Teilhabewünschen der Bürgerschaft an politischen Entscheidungen. Erler spricht von „neuer Demokratie“ und „institutioneller Bürgerbeteiligung“ – große Begriffe, die sie aber nicht pathetisch gebraucht, sondern eher beiläufig einstreut. Aber natürlich ist ihr bewusst, dass sie damit Erwartungen weckt – und Misstrauen sät bei denen, die im repräsentativ-parlamentarischen System die Verantwortung tragen. Bei Gemeinderäten etwa, die sich fragen, weshalb sie ihre Freizeit opfern sollen, wenn sie am Ende doch nicht das letzte Wort behalten sollen. Von den Abgeordneten sagt die Staatsrätin, dass diese künftig auch eine Moderatorenfunktion übernehmen werden – Mittler zwischen widerstreitenden Interessen in der Bürgerschaft und zwischen den Bürgern und dem Machtanspruch des Staats.

Manches ist getan, vieles noch auf dem Weg

Mit der Volksabstimmung über Stuttgart 21 war der grün-roten Koalition ein erster Aufschlag in Sachen Bürgerbeteiligung gelungen. Doch seither herrscht Ebbe. „Es gibt viele Veranstaltungen“, sagt ein SPD-Koalitionär über die Arbeit der Staatsrätin, „aber liefern sollte sie langsam schon etwas.“ Es ist eine Frage der Perspektive. Manches ist getan, das meiste aber noch im Werden. Gisela Erler redet von Vernetzung, Strukturen und Dialogen, die Kritiker warten auf Gesetze. Als ehrenamtliche Staatsrätin ist sie zwar in der Regierungszentrale angesiedelt, verfügt aber über keinen eigenen Apparat. Sie regt an, vermittelt, organisiert. Aber sie ist auf das Mittun der Ministerien und der Fraktionen angewiesen. „Ich bin der wandelnde Querschnitt“, beschreibt sie ihre Rolle. „Meine Aufgabe ist es, funktionierende Strukturen zu etablieren und die großen Gesetze mit auf den Weg zu bringen.“

Blickt die 66-Jährige auf ihre Arbeit, dann fasst sie ein weites Reformpanorama ins Auge. Sie initiierte eine „Allianz für Beteiligung“ als staatlich unabhängiges Netzwerk. Im Herbst soll eine Beteiligungsplattform an den Start gehen, über die via Internet Gesetzesvorhaben kommentiert werden können. Den Beamten werden künftig in Aus- und Fortbildung Themen der direkten Demokratie, Methoden der Bürgerbeteiligung und eine bürgerfreundliche Behördenkultur nahegebracht.

Sichtbare Balken in der Landschaft

Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) brachte im südbadischen Atdorf das Moderationsverfahren zu dem umstrittenen Pumpspeicherkraftwerk auf den Weg. Agrarminister Alexander Bonde (Grüne) bettet die Planungen für einen Nationalpark in einen breiten Mitspracheprozess ein. Der Grünen-Abgeordnete Markus Rösler sagt: „Es gibt in Europa keinen Nationalpark, der in seiner Entstehungsgeschichte ein vergleichbares Beteiligungsverfahren durchlaufen hat.“ Innenminister Reinhold Gall (SPD) hat ein Informationsfreiheitsgesetz angekündigt, bei dem der Staatsrätin Erler wichtig ist, dass künftig auch Verträge der öffentlichen Hand mit der Privatwirtschaft offengelegt werden müssen. Anfang 2013 soll der Entwurf vorliegen. In der Schulpolitik verspricht Erler einen „Entwicklungsdialog“, der die Bürgerschaft vor Ort einbeziehe. Das Kultusministerium sei eifrig bei der Arbeit.

Zwei Leitfäden, der eine für die Landesregierung und ihre nachgeordneten Behörden, der andere für die Kommunen, sollen mehr Bürgerbeteiligung im Planungsrecht verankern. Und dann stehen noch zwei große gesetzgeberischen Projekte an: erstens die Erleichterung von Volksabstimmungen auf Landesebene – für die nötige Verfassungsänderung kommt Grün-Rot an der CDU nicht vorbei –, zweitens das Reformpaket für mehr direkte Demokratie in den Kommunen. Die Staatsrätin sagt, dies seien die „großen Balken“, welche Grün-Rot als sichtbare Zeichen des Wandels „in die Landschaft stellen“ wolle. Mag auch das Gesamtbild noch unscharf sein, so ist sie sich doch sicher: „Immer mehr Menschen werden an immer mehr Stellen erfahren, dass sich etwas ändert.“

Begegnung bei den Ökolibertären

Des Rückhalts des Ministerpräsidenten kann sich Erler sicher sein. Sie kennt Winfried Kretschmann (Grüne) seit Anfang der 1980er Jahre. Sie liefen sich bei den Grünen über den Weg, genauer: sie trafen sich im ökolibertären Zirkel – Flügel wäre schon zu viel gesagt – der noch jungen Partei. Die Ökolibertären einte die Überzeugung, dass die Grünen sich mit ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konzepten nicht jenseits der Marktwirtschaft bewegen sollten. Parteiposten strebte Gisela Erler nie an, sie machte ihre eigenes Ding. Sie ist die Tochter von Fritz Erler, der in der SPD der 1950er und 1960er Jahre ein wichtiger Mann war – Oppositionsführer im Bundestag und potenzieller Kanzlerkandidat. Er starb aber früh an Krebs. Dass seine Tochter bei den Grünen andockte, hat mit einem gewissen, für diese Partei typischen Grundmisstrauen gegen Großorganisationen zu tun. Kollektive Interessenvertretung wird als wichtig akzeptiert, aber den kleineren Einheiten wird mehr Kreativität zugetraut. So sieht das auch Gisela Erler.

Wenn sie redet, ist die Sozialwissenschaftlerin deutlich herauszuhören. Dass das aber nicht nur theoretischer Bombast ist, dass sie vielmehr auch in der Praxis Bedeutendes zu leisten vermag, hat sie Anfang der 1990er Jahre bewiesen, als sie sich nach Jahren am Deutschen Jugendinstitut selbstständig machte und eine eigene Firma gründete, die Unternehmen vor allem, aber nicht allein in Sachen Kinderbetreuung Beratung und Hilfe zukommen lässt. Die „pme Familienservice“ mit 1300 Mitarbeitern betreibt nach Erlers Angaben inzwischen 80 Kinderkrippen. Viele Großkonzerne nehmen dieses Angebot in Anspruch. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eines der Themen, die Erlers Weg bestimmten. Das beeindruckte auch Winfried Kretschmann, der sie im vergangenen Jahr als ehrenamtliche Staatsrätin mit Stimmrecht in sein Kabinett berief.