Herr Bächtiger, das von der Landesregierung gewählte Verfahren lehnt sich an das irische Modell der Partizipation etwa zum Thema Schwangerschaftsabbruch an, das auf der Insel landesweit erfolgreich durchgeführt wurde. Sind 40 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Durchschnittsbürger da ausreichend repräsentativ?
Nicht wirklich; dafür bräuchte es 300 bis 400 Bürger und Bürgerinnen. Man kann sicherlich eine Gruppe anhand vorselektierter Kriterien – Geschlecht, Einkommen, Region und so weiter – zusammenstellen, die bezüglich der vorselektierten Kriterien repräsentativ für die Bevölkerung ist. Aber mit diesem Verfahren kann man nicht garantieren, dass nicht vorselektierte Kriterien, etwa politisches Interesse, in der Gruppe ebenfalls repräsentativ verteilt sind. Meine Forschung zeigt, dass die Legitimität eines Bürgerforums aus Sicht der Nicht-Teilnehmenden mit der Anzahl der Teilnehmenden deutlich steigt.
Kritiker fordern, das sogenannte Bürgerforum müsse an einem „neutralen Ort“ abgehalten werden und nicht in der Oper. Ist die Wahl des Versammlungsortes für die Empfehlung ausschlaggebend?
Ja, Orte spielen eine zentrale Rolle. Ich würde für einen neutralen Ort plädieren, damit gar nicht erst der Vorwurf der Voreingenommenheit aufkommt.
Die Kritiker bemängeln zudem, dass die Auswahl der beauftragten Moderatoren durch das Land das Ergebnis der Empfehlung vorwegnehme, da das Land sich bereits für die Sanierung und gegen die vorgeschlagenen Alternativen – namentlich die des Vereins Aufbruch Stuttgart – ausgesprochen habe. Wer sonst müsste Ihrer Ansicht nach ein solches Forum organisieren, um den Vorwurf zu entkräften?
Das Optimum wäre sicherlich, wenn die Bürger selber bestimmen würden, wie das Forum organisiert werden soll. Das ist aber schwierig zu erreichen in der Praxis. Eine andere Möglichkeit wäre eine Nichtregierungsorganisation, die von allen Beteiligten als neutrale Instanz angesehen würde. Aber fast noch wichtiger als die durchführende Organisation ist die Auswahl möglichst heterogener Experten und Sachverständigen, die Möglichkeit für die teilnehmenden Bürger, Änderungen an der Agenda vorzunehmen sowie eine Moderation, die sicherstellt, dass alle Stimmen und Gegenstimmen ausführlich gehört werden.
Kann aus wissenschaftlicher Sicht eine solche Bürgerbeteiligung den Konflikt um ein Sachthema befrieden oder besteht die Gefahr, dass die unterlegene Seite sich aus Enttäuschung in Fundamentalkritik ergeht?
Es kommt sehr darauf an, wann Bürgerbeteiligung durchgeführt wird. Wenn der Konflikt schon eskaliert ist, wird Befriedigung grundsätzlich schwierig. Ein weiteres Problem ist, dass die an der Diskussion beteiligten Bürger und Bürgerinnen sich durchaus gehört fühlen können, wenn das Forum gut organisiert ist. Aber diejenigen, die nicht daran teilgenommen haben, werden das nicht unbedingt so sehen. Oft fehlen die Transmissionskanäle von innen nach außen; es müsste sichergestellt werden, dass die Diskussions- und Entscheidungsprozesse des Forums nach außen transparent gemacht werden. Grundsätzlich bin ich skeptisch, ob Bürgerbeteiligungsverfahren Konflikte befrieden können. Damit so etwas gelingt, bräuchte es früh ansetzende, komplexe sogenannte Co-Governance-Verfahren wie in Irland zu den Themen Homoehe und Abtreibung, bei denen Bürger und politische Akteure eng zusammen arbeiten und die vom repräsentativen System aufgenommen und weiterverarbeitet werden.