Sich regen bringt Segen, nicht nur bei Stuttgart 21: Nirgendwo sonst in Deutschland hat sich in den vergangen Jahren so viel bewegt wie in Baden-Württemberg.

Stuttgart - Es ist nur ein Gedankenspiel, aber ein erhellendes: Stellen wir uns vor, gegen den Berliner Großflughafen wären vor Jahren schon Zehntausende von Menschen auf die Straße gegangen. Vor Gericht waren sie zwar unterlegen, aber unterkriegen ließen sie sich nicht. Sie protestierten gegen den drohenden Fluglärm und wegen planerischer Mängel, auf die sie bei Durchsicht der Akten gestoßen waren. Und weil sie ahnten, dass diese Mängel so groß waren, dass sie beseitigt werden mussten, schlugen sie noch häufiger und noch lauter Alarm als zuvor – so lange, bis Politiker und Manager ihre Planungen korrigierten, rechtzeitig genug, dass Kosten eingedämmt und Termine gehalten werden konnten. Übermorgen, am 1. Februar, wäre es dann so weit: Der Aufsichtsratsvorsitzende Klaus Wowereit eröffnet den Willy-Brandt-Flughafen und nutzt die Gelegenheit, den kritischen Bürgern zu danken, ohne deren konstruktive Einmischung das Projekt ein Debakel geworden wäre.

 

Armes Berlin, glückliches Stuttgart!

Ende des Gedankenspiels. Heute weiß jeder, dass es nicht dieser Berliner Bürgermeister sein wird, der irgendwann und irgendwie die Terminals eröffnen wird. Wowereit ist als Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafengesellschaft zurückgetreten und hat die Verantwortung für das umfassende Baustel-lenfiasko übernommen, das im Vorfeld von niemandem verhindert worden ist: nicht vom Aufsichtsrat, dem er vorsaß, nicht von sonstigen Kontrollgremien und auch nicht von einem mächtigen Bürgerprotest, der das Verkehrsprojekt beharrlich über Jahre hinweg begleitet hätte. Armes Berlin, aber glückliches Stuttgart! Denn hier, bei einem ebenfalls zum Fiasko neigenden Projekt, läuft es zumindest in einer Hinsicht anders als in der Hauptstadt: Seit Jahren findet in der Schwabenmetropole das größte öffentliche Controlling statt, das ein Bau- und Immobilienvorhaben in der Bundesrepublik je erlebt hat. Dieses Controlling heißt: Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21.

Wie erfolgreich sich das unorthodoxe Kontrollgremium bisher geschlagen hat, beweist ein Blick in die Vergangenheit. Dutzende von Arbeitsgruppen und Hunderte von Experten haben in den zurückliegenden Jahren viel Zutreffendes über S 21 herausbekommen und es an Tausende und Abertausende von Menschen auf der Straße weitergegeben. Ob es um die verschwiegenen Kosten des Bahnprojekts oder seine unterschlagenen Risiken ging, seine technischen und verkehrlichen Unzulänglichkeiten, seine planerischen Versäumnisse, seine juristischen Mängel – fast alles, was die Schwarmintelligenz der Projektgegner an Fakten und Zahlen ermittelt hat, musste von der Bahn als Bauherr früher oder später aus dem oft bemühten „Reich der Spekulation“ zurückgeholt und mit Widerwillen eingeräumt werden. Das von Bürgern organisierte, von Bürgern finanzierte Controlling funktioniert – und hat den Bauherrn in den vergangenen Jahren immer wieder zur Transparenz gezwungen. Diese konstruktive Einmischung ist ein Segen fürs Gemeinwohl – und für die Demokratie überhaupt, zumindest in Baden-Württemberg.

Der Bahnhofsstreit hat Demokratieimpulse ausgesendet

Was ist durch den S-21-Protest nicht alles bewegt worden! Bewegt in den Köpfen von Menschen, die sich wieder vorstellen können, in Stadt und Land für ihre Belange einzutreten! Im Zuge der Aktionen gegen das Bahnprojekt sind alte Formen der politischen Teilhabe wiederbelebt und neue Formen ausprobiert worden. Tägliche Treffen und wöchentliche Demonstrationen vor dem Bahnhof, „Volksversammlungen“ mit Politikern auf dem Marktplatz, Schlichtungsverfahren mit Heiner Geißler live im Fernsehen vor einem Publikum, das in die Hunderttausende ging, gekrönt von der Volksabstimmung über S 21: der Bahnhofsstreit hat Demokratie-Impulse ausgesendet, deren Stärke nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Selbst wenn mittlerweile viele der Partizipationsformen, die auch im Netz ihren Niederschlag gefunden haben, wieder verschwunden sind, ist eines doch geblieben. Es ist der Geist des Aufbruchs, der sich nicht zurück in die Flasche zwingen lässt.

Dieser Geist ist mitten unter uns. Und er wirkt so machtvoll, dass er schon jetzt Geschichte geschrieben hat. 58 Jahre CDU-Herrschaft im Land, 38 Jahre in der Landeshauptstadt – dass Demokratie vom Wechsel lebt, hätte man im Südwesten fast vergessen, wären die Schwarzen am Ende nicht doch noch aus dem Amt gewählt worden. Noch erstaunlicher als diese Abwahl mutet freilich an, was der regsame Geist sich dann als Neuanfang ausgedacht hat: den ersten grünen Ministerpräsidenten in einem Bundesland überhaupt, desgleichen den ersten grünen Oberbürgermeister in einer Landeshauptstadt. Und weil man sich hier wie dort, in der Villa Reitzenstein und im Stuttgarter Rathaus, der „Politik des Gehörtwerdens“ verschrieben hat, gilt Baden-Württemberg als Demokratielabor der Republik, wie es der Publizist Jakob Augstein formuliert hat. Und auch der Umkehrschluss stimmt: Die Politikverdrossenheit ist derzeit wohl nirgendwo geringer als zwischen Mannheim und Konstanz, Freiburg und Ulm.

Der Um- und Ausbau des demokratischen Systems wird dauern

Sichtbarstes Zeichen des Labors ist Gisela Erler. Eingesetzt von der grün-roten Landesregierung, soll sie als „Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“ die Demokratie im Lande voranbringen. Eine Kärrnerarbeit: die Staatsrätin Erler reist umher und redet mit Bürgern, die gemeinsam den einzigen Supermarkt im Ort betreiben oder sich bei der Frage nach dem Standort fürs Feuerwehrhaus in den Haaren liegen. Sie hört zu, argumentiert und moderiert – und sammelt Erfahrungen aus der täglichen Praxis, die irgendwann übersetzt werden müssen in politische Verfahren der Entscheidungsfindung, die tatsächlich dazu taugen, mehr Bürgerbeteiligung zu ermöglichen.

Das wird dauern. Der Um- und Ausbau des demokratischen Systems könnte in zehn bis fünfzehn Jahren abgeschlossen sein, vermuten Fachleute. Unter einer Voraussetzung: der politische Wille, im Demokratielabor zu arbeiten, muss auch in Zukunft vorhanden sein, selbst dann, wenn erste Experimente und Vorhaben scheitern sollten. Derzeit bemüht sich Grün-Rot, die Volksabstimmung auf Landesebene zu einem wirksamen Instrument der Bürgerbeteiligung zu machen. Das schon damals bei S 21 kaum zu erreichende Quorum von einem Drittel der Wahlberechtigten soll gesenkt werden. Die Koalition ist sich in dieser Renovierungsfrage einig, die Opposition, deren Zustimmung notwendig wäre, blockt.

Sonst aber tut sich einiges im Land. Zum Glück – kurz nach seinem Amtsantritt erklärte der neue Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn, dass er sich nicht „zum Wowereit machen“ lasse. Er sagte das vor dem Hintergrund der bitteren Erfahrungen mit dem Berliner Flughafen – und mit Blick auf die erneute Kostenexplosion bei Stuttgart 21. Dass das Projekt im Herzen der Landeshauptstadt teurer werden würde, als von der Bahn behauptet, darauf weisen Bürgerexperten schon seit Jahren hin. Kuhn kann ihnen dankbar sein: Auch sie bewahren ihn vor der Wowereitisierung.