Einheitsfeier als Wegweiser für die neue Regierung: In Stuttgart wird nicht nur an eine „Sternstunde deutscher Geschichte“ erinnert. Bundespräsident Gauck sieht Merkel und Co. vor einem Berg von Problemen.

Stuttgart - Bundespräsident Joachim Gauck hat am Tag der Deutschen Einheit die kommende Bundesregierung zu mehr Engagement in einer Welt voller Krisen und Umbrüche ermutigt. „Unser Land ist keine Insel“, sagte das Staatsoberhaupt am Donnerstag beim Festakt in Stuttgart. Deutschland müsse sich stärker an der Lösung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Konflikte beteiligen. Zwar dürfe Deutschland andere Länder nicht bevormunden. „Ich mag mir aber genau so wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen.“

 

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte fest, dass es auch 23 Jahre nach der Wiedervereinigung noch zu große Unterschiede zwischen Ost und West gebe. „Es bleibt einiges zu tun.“ Im Osten seien die Gehälter niedriger und die Arbeitslosigkeit höher als im Westen. Die Ost-Ministerpräsidenten Christine Lieberknecht (Thüringen, CDU) und Erwin Sellering (Mecklenburg-Vorpommern, SPD) forderten die Anhebung der Ost-Renten auf Westniveau. Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich (CDU) dankte für die Aufbauhilfe der alten Länder.

Die Einheitsfeiern unter dem Motto „Zusammen einzigartig“ richtete in diesem Jahr Baden-Württemberg aus, da Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) den Vorsitz im Bundesrat innehat. Zu dem Bürgerfest in Stuttgart kamen Hunderttausende Menschen. Gauck, Merkel und Kretschmann nahmen nach einem Gottesdienst ein Bad in der Menge.

Gauck: digitale Revolution und Folgen der alternden Gesellschaft meistern

Der Bundespräsident trug der nächsten Regierung auf, die digitale Revolution und die Folgen der alternden Gesellschaft zu meistern. „Wenn die Gesellschaft der Wenigeren nicht eine Gesellschaft des Weniger werden soll, dann dürfen keine Fähigkeiten brach liegen.“ Sozial Schwächere müssten eine gute Bildung erhalten. Die Politik habe sich zwar auf den Weg gemacht. „Aber sie bewegt sich nicht immer schnell genug.“ Krippenausbau und die Verbesserung der Pflegesysteme gingen zu langsam voran. Die Einwanderungspolitik müsse moderner werden.

Kretschmann nannte als wichtige Aufgabe für die neue Regierung eine Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Die Bundesländer müssten ausreichend finanzielle Mittel haben, um ihre Aufgaben gut erfüllen können. Mit einer Reform des Finanzausgleichs müsse dafür gesorgt werden, „dass Nehmerländer sich kräftigen und weiterentwickeln und Geberländer nicht dauerhaft überfordert werden“. Kretschmann warnte zudem vor zu viel Zentralismus in Europa. Im zusammenwachsenden Europa müsse mehr föderal gedacht werden.

Gauck räumte ein, dass sich das Gesicht Europas gewandelt habe. „Ohne Zweifel ist das Europa in der Krise nicht mehr das Europa vor der Krise. Risse sind sichtbar geworden.“ Kräfte und Mehrheiten hätten sich verschoben. Nationale Regierungen bestimmten wesentlich die Agenda. Dennoch sei die Einheit nicht in Gefahr. „Ein starkes Band aus Mentalität, Kultur und Geschichte hält Europa zusammen.“

Angesichts der „digitalen Revolution“ forderte der Bundespräsident den Erhalt der Privatsphäre ein. „Wir brauchen also Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen, die diesem epochalen Wandel Rechnung tragen.“ Datenschutz müsse so wichtig werden wie Umweltschutz. Abzuwägen sei, was ein Staat im Geheimen tun dürfe, um seine Bürger zu schützen - aber lassen müsse, um nicht die Freiheit der Sicherheit zu opfern. Der ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen sagte: „Wir wollen die Vorteile der digitalen Welt nutzen, uns gegen ihre Nachteile aber bestmöglich schützen.“

Gauck: „Beglückendste Zeit meines Lebens“

Gauck erinnerte in seiner Rede an die Ohnmacht in der DDR und den Freiheitswillen der Ostdeutschen. Für ihn selbst sei die deutsche Wiedervereinigung und der Weg dorthin die „beglückendste Zeit meines Lebens“ gewesen, sagte der ehemalige Bürgerrechtler. Kretschmann bezeichnete die Wende als „historischen Glücksfall“, die eingebettet gewesen sei in das Zusammenwachsen Europas. „Es war eine Sternstunde deutscher Geschichte“, sagte der Grünen-Politiker.

Merkel dankte allen, die sich für die Wiedervereinigung eingesetzt haben. Explizit nannte sie Bürgerrechtler in der früheren DDR. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, sagte bei dem Gottesdienst am Morgen, der 3. Oktober mahne, „das Geschenk der Einheit nicht als etwas Selbstverständliches zu betrachten“.