Eine Klinik in Nordhessen wird zum Lazarett für Kriegsverletzte aus Libyen, die sich dort so heimisch wie möglich fühlen sollen.  

Rotenburg an der Fulda - An die dramatischen Anrufe Ende November erinnert sich Klinikdirektor Guido Wernert noch genau. Der erste kam von der libyschen Übergangsregierung. Ob man eine große Gruppe verletzter Gaddafi-Opfer aus einem Lager in Tunesien aufnehmen könne. Der andere, zwei Tage später, kam von der Bundespolizei am Frankfurter Flughafen. Man habe hier 80 Libyer, einige künstlich beatmet, andere bandagiert, mit Krücken oder im Rollstuhl. "Die wollen alle zu Ihnen nach Rotenburg. Stimmt das?"

 

Es stimmte. Das privat geführte Herz-und-Kreislauf-Zentrum, eine Akut- und Rehaklinik mit fast 600 Betten, entschloss sich spontan, die ungewöhnliche Anfrage positiv zu beantworten. "Natürlich war das ein Risiko, wir wussten erst nicht, welche Krankheitsbilder auf uns zukommen", sagt Guido Wernert in seinem holzgetäfelten Büro, von dem der Blick weit ins Fuldatal reicht. Wernert trommelte sein Team zusammen. "Wir mussten binnen 48 Stunden einen Therapieplan aufstellen." Eines war dem Manager wichtig: In allen Zimmern sollten die Fernseher arabische Sender empfangen können: "Damit die Libyer sich sofort heimisch fühlen."

Der Unfallchirurg Joachim Schuchert, der sich sonst meist um die Hüft- und Kniebeschwerden älterer Nordhessen kümmert, fühlte sich plötzlich wie im Kriegslazarett. Er habe doch früher nie Schusswunden behandelt, räumt er ein. "Plötzlich hatten wir Patienten mit sieben Kugeln im Körper. Da haben Sie es mit sieben Baustellen zu tun." Schuchert ist immer noch erschüttert darüber, was er in den ersten Tagen sah: "Wenn eine Kugel einen Knochen trifft ist das wie, wenn ein Säckchen Mehl auf den Boden knallt. Da zerstäubt alles: Knochen, Nerven, Gewebe." Für schwierige Eingriffe werden die Libyer an andere Krankenhäuser verlegt. Man sei hier "Drehscheibe", sagt der Arzt. Aber nach Rotenburg kommen sie immer zurück - zur Rehabilitation, und die kann Monate dauern.

Mit wohlhabenden Patienten aus Saudi-Arabien, Bahrein und Dubai hat das Krankenhaus in der hessischen Provinz schon seit acht Jahren Erfahrung. Aber die neue Klientel ist anders. Es sind auch einfache Soldaten, Händler, Arbeiter darunter. Die libysche Regierung wird für sie die Kosten übernehmen - nach Privatleistungen abgerechnet mit einem Aufschlag für den Mehraufwand. "Für die Freiheitskämpfer ist es oft nicht leicht, Autoritäten anzuerkennen", sagt Schuchert. Auch die des Arztes nicht, weshalb er oft lange diskutieren müsse. In solchen Fällen greift Bassam Abou Ali sanft vermittelnd ein, ein Libanese, der seit elf Jahren an der Klinik arbeitet, und sich nun - gemeinsam mit acht arabischen Dolmetschern - um das seelische Wohl der Patienten kümmert.

Der Krieg ist präsent in den Köpfen

Abou Ali, ein sportlicher Mann um die 40, kennt jeden und jedes Schicksal, er hat alle Handynummern gespeichert. Beim Rundgang mit ihm durch den "libyschen" Trakt der Klinik erinnert viel an die Rebellion gegen Gaddafi. Mohammed, ein älterer Mann mit zerschossenen Beinen, hat über sein Bett die neue libysche Fahne aufhängen lassen - wandfüllend. Spontan spreizt er beim Fotografieren die Finger zum Siegeszeichen. Vom Geballere hat er offenbar nicht genug - zwei Batterien mit Feuerwerksraketen hat er von Silvester übrig.

Der Krieg ist präsent in den Köpfen, den Erzählungen, den Träumen. Der 34-jährige Ahmed al-Mabruk, ein Kranführer, liegt im Gymnastikraum und bewegt sein von Verbrennungen entstelltes Bein. Seine Physiotherapeutin hört aufmerksam zu, während er erzählt, wie am 2. März 2011 in der Ölstadt Brega dicht neben Mabruk eine Rakete einschlug. "Ich sah nur Feuer", erzählt der Libyer. Später im Krankenhaus von Bengasi, habe er seine Verletzungen als vergleichsweise gering gesehen: "Bei den anderen waren Arme weg, Beine weg." Schlimm sei die Sorge um seine Familie gewesen: "Als ich hörte, unsere Stadt ist in die Hände von Gaddafis Armee gefallen, da habe ich nur noch geheult." Auch heute bewegt ihn diese Erinnerung am stärksten.

Das kalte Nordhessen lässt die Traumatisierten Abstand zu ihren Verletzungen gewinnen: "Die Libyer sind gut drauf", sagt Ergotherapeutin Sarah Meier (24). Man scherze viel, einige Sätze Arabisch könne sie schon. "Ich liebe dich" sei auch dabei. Er sei den Deutschen sehr dankbar, sagt Mabruk, den Ärzten, den Pflegern, den Dolmetschern.


Für die Libyer hat die Direktion einen Freizeitbereich mit Café eingerichtet, eine Internetecke wo per Skype mit der Heimat telefoniert wird. Im Restaurant der Klinik baut Küchenchef Uwe Gathmann ein arabisches Büfett auf. Das Fladenbrot liefert eine libanesische Bäckerei, den Rest kocht der Deutsche nach Kenntnissen aus einem Volkshochschulkurs: "Man muss alles klein schneiden, damit es ins Fladenbrot passt." An den Klinikfluren weisen arabische Schilder den Weg zum Gebetsraum. Gelbe Streifen auf dem Teppich markieren die Richtung nach Mekka - der Blick aus der Moschee fällt ausgerechnet auf das Wildschweingehege vom Rodenberg.

Spaziergänge in die Fachwerkstadt Rotenburg oder auf die Ruine vom Rodenberg - allzu viel können Patienten nicht unternehmen. Einmal im Monat kommt ein Gesandter der libyschen Botschaft und bringt den Landsleuten ein Taschengeld in bar. Von Montag bis Freitag sei Therapie angesagt, aber samstags, berichtet Abou Ali, da fahre man mit einem Bus zum Einkaufen nach Kassel - Ablenkung muss sein.

"Der Schnee ist hier das Schönste", berichtet die 14-Jährige Dunia al-Misawi, sie habe viele Bilder davon gemacht. Dunia ist mit ihren Eltern und ihrer 17-jährigen Schwester Fatima hier, die in einer Zahnklinik operiert wird. Eine Kugel durchschlug Fatimas Kiefer. Dunia lächelt kurz, bevor sie zu erzählen beginnt. Abou Ali ist heilfroh: "Beim letzten Besuch hat sie nur geschwiegen."

"Sie kamen dauernd herein und sagten, wir erschießen euch"

Es war am 21. August 2011. Ein Onkel, ein Cousin und die Schwestern fuhren mit einer Rebellenfahne am Auto ins angeblich befreite Tripolis, als sie an einem Checkpoint der Gaddafi-Soldaten unter Beschuss kamen. Fatimas Wangen wurden durchlöchert. Dunia hielt die Hände an den Kopf, eine Kugel zerschlug einen kleinen Finger. Der Onkel und der Vetter wurden mehrfach getroffen. "Wir haben geblutet, aber sie haben uns verhaftet und in einen Container gesperrt. Dort warteten wir einen Tag, sie kamen dauernd herein und sagten: Wir erschießen euch heute." Die Zeit im Container, sagt das Mädchen, sei furchtbar gewesen. Die Rettung war ihr Vater, der sie und die Schwester auslöste. Der Onkel und der Cousin mussten als "Pfand" zurückbleiben - aber am nächsten Tage rückten die Rebellen in Tripolis ein. Alle überlebten.

Dunias Eltern betreiben Kleiderläden, die Kosten für eine Privatklinik könnten sie sich nie leisten. Dass die Regierung in Tripolis die Behandlung zahle, das sei das Mindeste, sagt die Mutter. "Den Finger wird meine Tochter nicht wiederbekommen." Ja, man habe Heimweh, sagt Frau al-Misawi. "Ich habe noch kleine Kinder in Libyen, mit denen telefoniere ich täglich. Die sind sauer, dass ich so lange weg bin."