Die 80-jährige Ursula Leipold war schon als junge Frau eine schillernde Persönlichkeit in Sulzbach an der Murr. Für die Serie „Bürgersprechstunde“ zieht sie eine Zwischenbilanz ihres bewegten Lebens.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Sulzbach/Murr – - Ursula Leipold ist ein geselliger Mensch. Ihren 80. Geburtstag wird sie an diesem Dienstag so feiern, wie es zu ihr passt: mit der Familie und zig Freunden aus aller Welt in einem Sulzbacher Gasthaus. Vor der großen Sause erzählt sie, wie sie auf dem Grat zwischen Kreativität und Chaos wandelt.
Frau Leipold, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich kam am 16. Februar 1936 in der Stuttgarter Hebammenschule als absolutes Wunschkind zur Welt. Es war der letzte Tag der Winterolympiade in Garmisch, auf diese Parallelität der Ereignisse weise ich gerne hin, weil ich eine leidenschaftliche Skifahrerin bin, schon als Dreijährige stand ich auf den Brettern. Ich schwärmte für Christl Cranz, die Olympia-Siegerin von 36. Meine sechs Jahre jüngere Schwester hieß deshalb auch Christl ohne „e“. Später waren wir viele Jahre mit unseren Kindern und Enkeln in Steibis und in Christl Cranz-Borchers Skischule. Dabei haben wir sie auch persönlich kennengelernt und . . .
. . . Verzeihung, Frau Leipold, Sie schweifen gerade vom Thema ab.
Das werfen mir mein Sohn und meine Tochter auch vor. Ich verliere beim Erzählen oft den Faden. Versuchen wir es noch mal von vorne: Meine Mutter Sofie war eine dunkelhaarige, kleine, quirlige Frau aus Stuttgart-Wangen. Eine geborene Glemser, in Wangen heißen ja fast alle Alteingesessenen Glemser. Mein Papa Rudolf Külbel war ein blonder Sachse, den es als Sattler auf der Walz ins Schwabenland verschlagen hatte. Er hatte als zwölfjähriger, armer Leipziger Großstadtjunge bereits arbeiten müssen, schloss sich dem Spartakusbund an und wurde Kommunist. Er gehörte zu den Naturfreunden und der Stuttgarter Widerstandsbewegung gegen Hitler, weswegen er 1933 entlassen wurde. Als er arbeitslos war, entdeckte er in einer Zeitschrift ein Preisausschreiben des Reißverschlussherstellers Riri, der nach neuen Produktideen suchte. Mein Vater gewann den Wettbewerb mit einem ledernen Füllhalteretui, so etwas gab es damals noch nicht. Doch anstatt das Preisgeld zu nehmen, machte er sich mit seiner Erfindung selbstständig. Er mietete einen Raum in einer alten Klavierfabrik und legte los. Sein erster Kunde war Pelikan.
Sie sind also eine Fabrikantentochter.
Ja, aber so bin ich nicht aufgewachsen. Schon 1934 verlegte mein Vater den Firmensitz nach Kornwestheim, wo er mit den Jahren an sechs verschiedenen Standorten kräftig expandierte. Für die Familie mietete er jedoch nur eine Wohnung, ich musste mir mit meiner Schwester ein winziges Zimmer teilen. Mein Vater war ein sozialer Unternehmer: Als er die ersten Frauen eingestellt hatte, gründete er sofort einen Betriebskindergarten, und für die Mitarbeiter schuf er ein Freizeitheim. Doch dann wurde in einer Bombennacht fast alles zerstört, was mein Vater aufgebaut hatte, und es gab viele Tote. Mich hat diese Zeit so geprägt, dass ich zu einer geradezu fanatischen Pazifistin wurde.
Wie ging es nach dem Krieg weiter?
Mein Vater zog 1949 mit dem Betrieb nach Sulzbach, wo er ein ehemaliges Lagergebäude gekauft hatte. Als wir ankamen, waren dort noch Flüchtlinge untergebracht – so wie heute. Meine Mutter heulte und fragte: „Wo sollen jetzt die ganzen armen Leute hin?“ Man baute dann sogenannte Behelfsheime, barackenähnliche Häuschen. Da es in Sulzbach sonst keine Industrie gab, dauerte es nicht lange, bis das halbe Dorf bei meinem Vater arbeitete. In den 60er Jahren hatte er bis zu 300 Mitarbeiter. Seinerzeit beschäftigte er auch viele Gastarbeiter aus Italien, Jugoslawien und Griechenland. Doch irgendwann war die Firma nicht mehr rentabel, weil große Handelskonzerne Billigprodukte aus Fernost verkauften. 1982 musste die Rudolf Külbel KG Konkurs anmelden.
Wie erging es Ihnen?
Ich hatte im väterlichen Betrieb Feintäschnerin gelernt und dann in Offenbach die Werkkunstschule besucht. Dort verbrachte ich vier Jahre, die mich total veränderten: Ich war als Landei angekommen und ging als selbstbewusste Diplom-Designerin. Diese Entwicklung habe ich größtenteils meinem Hochschullehrer Fritz Gotthelf zu verdanken, einem Architekten, der fast 30 Jahre in Beirut gelebt hatte. Er vermittelte mir die Liebe zur Literatur, zur Kunst und zur Musik. Frankfurt war in den Fünfzigern ja fast wie New Orleans, alle großen Jazzer traten dort auf: Louis Armstrong, Sidney Bechet, Dizzy Gillespie, Benny Goodman. Gotthelf ebnete mir den Weg in ein freieres Leben.
Das klingt, als wären Sie in Ihren Professor verknallt gewesen.
Nein, er war Mitte 40 und für mich und meine Freunde eine Vaterfigur. Verliebt habe ich mich in einen jungen, rothaarigen Hessen: meinen späteren Mann Peter Leipold. Ich lernte Pit während des Studiums auf einer Faschingsfeier kennen. Mir imponierte, wie gut er tanzen konnte. Wir haben uns dann in der Studentenkneipe Mexicana wiedergetroffen und stundenlang gequatscht, bis er sagte: „Nun ist mein letzter Zug nach Hause weg.“ Erst an unserem neunten Hochzeitstag gestand mir Pit, dass dies gelogen war. Jedenfalls verbrachten wir jene Nacht händchenhaltend auf einer Bank am Main, und es war um mich geschehen.