Auftakt der StZ-Gesprächsreihe „Bürgersprechstunde“: Alfred Martin ist in einem Kinderheim misshandelt worden und spürt die Folgen bis heute.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Alfred Martin ist 66 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Bis zur Rente vor fünf Jahren arbeitete er als psychiatrischer Fachpfleger im Stuttgarter Furtbachkrankenhaus. Martin hat uns geschrieben, weil er über sein Schicksal als Heimkind sprechen will.

 
Herr Martin, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich war ein uneheliches Kind, ein sogenannter Bastard. Meine Großeltern waren gut betuchte niederrheinische Bauern. Sie hatten fünf Töchter, die jüngste Tochter war meine Mutter. Sie war körperbehindert zur Welt gekommen, mit einer Kyphoskoliose, im Volksmund Hexenbuckel genannt – wie beim Glöckner von Notre-Dame. 1948 wurde sie von einem Knecht des Nachbarhofes geschwängert. Das war eine Schande für die Familie: Meine Mutter wurde vom Hof gejagt, und mich steckte man als Säugling ins Kinderheim St. Josef in Geldern, wo ich bis zum 14. Lebensjahr blieb. Anschließend war ich bis 19 in einem Lehrlingsheim im benachbarten Kamp-Lintfort und wurde als Hilfsarbeiter in der berühmten Zeche Friedrich Heinrich eingesetzt. Ich wurde also als 14-Jähriger, zusammen mit ganz rauen Kerlen, 800 Meter tief in die Grube gefahren.
Sind Sie jemals Ihren Eltern begegnet?
Einmal, da war ich sieben, kam meine Mutter in das Kinderheim. Sie war damals schwanger mit meiner Halbschwester. Die Situation war für mich verstörend. Erst zwei Jahrzehnte später habe ich meine Mutter besucht. Bis zu ihrem Tod 1992 ist es uns gelungen, eine intakte Beziehung aufzubauen. Wer mein Vater ist, wurde mir vom Jugendamt erst mit der Volljährigkeit, also mit 21, mitgeteilt. Ich bin sofort zu ihm gefahren, aber er schrie bloß „Du bist nicht mein Sohn!“ und schlug mir die Türe vor der Nase zu. Ich stand weinend in der klirrenden Kälte, bis zufällig der Ortspfarrer vorbeikam. Ihm konnte ich mein Herz ausschütten. Meinen Vater habe ich seit diesem Tag nicht wiedergesehen.
Wie verlief Ihre Kindheit ohne Eltern?
Sie war grausam. Ich wurde im Kinderheim von Nonnen des Ordens der Barmherzigen Schwestern misshandelt. Wenn ich ins Bett gemacht hatte, wurde mir das verpisste Laken um den Körper gewickelt, und dann haben mich die Nonnen gegen die Wand geschubst. Sie sperrten mich mehrmals nur mit einer Unterhose bekleidet in den Kohlenkeller. Ich musste Erbrochenes wieder aufessen, die Nonnen lachten, wenn ich mich dabei erneut übergeben musste. In der Kinderheimschule wurde mir bei den kleinsten Verfehlungen die Hosen runtergezogen und vor aller Augen mit einem Prügel auf den nackten Hintern geschlagen.
Kam es zu sexuellen Übergriffen?
Ja. Ich kann mich beispielsweise daran erinnern, wie ich als 12- oder 13-Jähriger im Bett lag und an meinem Penis rumgespielt habe – wie das in diesem Alter ganz normal ist. Dann kam eine Nonne herein, zog die Decke weg und sagte: „Zeig mir mal, was du da machst!“ Sie hat mein Glied in die Hand genommen und gefragt: „Ist das schön?“ Samstags wurden wir Jungen von den Nonnen mit einem Wasserschlauch abgespritzt, dabei zielten sie mit Vorliebe auf unsere Geschlechtsteile. Mit solchen sadistischen Perversionen demonstrierten sie, dass sie mit uns tun konnten, was sie wollten.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum sich die Ordensschwestern so gefühllos verhielten?
Die Nonnen in der Nachkriegszeit waren in der Regel Frauen, die in ländlichen Gegenden aufgewachsen waren, keinen Mann abgekriegt hatten und von ihren Vätern gesagt bekommen hatten: „Es gibt keine Verwendung für dich, deswegen gehst du ins Kloster!“ Sie kriegten dann eine Kutte übergezogen und wurden ohne pädagogische Ausbildung auf uns Heimkinder losgelassen. Die Frauen wollten das gar nicht. Diese Unzufriedenheit ließen sie uns spüren.