Die 67-jährige Hildegard Dürr setzt sich mit ihrer traumatischen Kindheit auseinander: Folge 10 der StZ-Gesprächsreihe „Bürgersprechstunde“.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)
Weil der Stadt - Hildegard Dürr hat die Heizung im oberen Stock schon aufgedreht. Im ehemaligen Kinderzimmer in ihrem Haus in Weil der Stadt sitzt sie oft stundenlang, telefoniert und sortiert alte Fotografien. Hildegard Dürr sammelt Material über ihre Familie, die im Krieg aus Bessarabien vertrieben wurde. Sie möchte über Schuld und Vergebung sprechen.
Frau Dürr, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich bin 1947 in Maulbronn geboren und unter traumatischen Verhältnissen aufgewachsen, die mich später sehr krank gemacht haben. Meine Eltern waren Vertriebene aus Bessarabien. Mein Vater ist gewalttätig und alkoholabhängig aus dem Krieg zurückgekehrt. Meine Mutter war mit zwei Kindern und zwei Pferden in eisiger Kälte hierher geflüchtet. Sie war eine starke Pionierfrau. Nach dem Krieg hätte sie eigentlich keinen Mann mehr gebraucht. Und mein Vater war für Friedenszeiten nicht mehr zu gebrauchen. Wir waren die einzige bessarabische Familie in Diefenbach, einem 600-Einwohner-Nest in der Nähe von Maulbronn. Meine Eltern hatten nichts und niemanden mehr. Sie waren wie aus dem Nest gefallen. Mein Vater hat hier nie richtig Fuß gefasst. Er hat bei Bauern im Ort ausgeholfen, aber dauernd war er betrunken, hat im Wirtshaus geprügelt und auch zu Hause, dauernd hatte er Frauengeschichten. Die 50er Jahre waren eine einzige Katastrophe. Und darin liegen meine späteren Depressionen und meine Suche nach den Wurzeln meiner Familie begründet.
Wie war Ihre Kindheit?
Ich war ein sehr beschämtes Kind, wir hatten fast nichts anzuziehen, nicht mal Bändel in den Schuhen. In der Schule hatten wir keinen Stift, kein Heft, kein Blatt. Meine Geschwister und ich waren verwahrlost. Meine Mutter ist immer arbeiten gegangen, eine Oma gab es nicht. Am schlimmsten waren die Exzesse meines Vaters. Freitagabends ist er mit dem letzten Bus heimgekommen und hatte von seinem Geld vom Zahltag schon ein Drittel vertrunken. Da hat er die ganze Familie verprügelt. Das Geschrei war groß.
Das muss schrecklich gewesen sein.
Ich erinnere mich an einen Sonntag, da war ich etwa neun Jahre alt. Es gab wieder eine schlimme Szene zu Hause, mein Vater hat meine Mutter gegen die Tür gedrückt und ihr ein Messer vor die Brust gehalten. Sie hat gesagt: „Jetzt bring mich halt um.“ Ganz gelassen. Ich bin an seinem Bein gehangen und habe wie verrückt geschrien. Die haben mich gar nicht bemerkt. Die ganze Kindheit habe ich mich gefragt: Warum bin ich überhaupt geboren? Es war alles so schlimm. Ich habe erlebt, wie mein Vater meine Mutter umbringen wollte. Und meine Mutter hat uns eines Abends erzählt, sie wolle Rattengift kaufen und meinen Vater umbringen. Sie hat es am Ende dann doch nicht getan.
Warum nicht?
Meine Eltern konnten nicht mit und nicht ohne einander. Aber in mir hatte meine Mutter einen Samen gelegt. Mein Vater war ja auch mir und meinen Geschwistern gegenüber gewalttätig. Ich habe sehr viel körperliche Misshandlungen erfahren. Einmal musste ich sogar am Oberschenkel operiert werden, weil er mich so mit dem Schlauch geschlagen hatte. Damals hat das niemanden interessiert. Die Lehrer haben das gewusst und auch der Pfarrer, aber da hat sich niemand drum geschert. Ich habe meinen Vater gehasst. Und mein Hass ist immer größer geworden. Ich bin dann mit 16 von zu Hause weg. Ich hatte sehr viel Energie, und meine Mutter habe ich wirklich vergöttert. Auch deshalb musste ich flüchten. Ihretwegen hätte ich irgendwann wirklich diesen Vater umgebracht. Das habe ich bisher noch nie ausgesprochen.