Angela Merkel feiert am Donnerstag ihren 60. Geburtstag. Sie ist – vermutlich – auf dem Zenit ihrer Macht. In seiner Bestandsaufnahme geht der StZ-Berlinkorrespondent Armin Käfer auch auf Spekulationen ein, die Bundeskanzlerin würde vorzeitig zurücktreten.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Angela Merkel ist alles andere als eine Revoluzzerin. Und doch werden die Kapitel ihres Lebens durch revolutionäre Brüche gegliedert. Man muss dabei noch nicht einmal an den Mauerfall denken oder an die Art, wie sie den Patriarchen Helmut Kohl vom Sockel gekippt hat. Es reicht ein Rückblick auf Merkels 50. Geburtstag – und auf die neun Jahre plus 364 Tage, die seitdem vergangen sind.

 

Damals hatte die CDU-Vorsitzende, die heute ganz selbstverständlich als mächtigste Frau der Welt gilt, nicht einmal in der Union so viel Macht, dass alles nach ihrem Willen gelaufen wäre. Sie war auf das Wohlwollen der bayerischen Schwesterpartei angewiesen, um Kanzlerkandidatin werden zu dürfen. Sie musste sich von Leuten wie Edmund Stoiber und Martin Hohmann auf der Nase herumtanzen lassen. Der eine rüffelte sie wegen ihrer Pläne für eine Kopfprämie. Der andere, Abgeordneter aus Fulda, faselte damals von den Juden als „Tätervolk“ – und Merkel hatte Mühe, ihre hessischen CDU-Freunde davon zu überzeugen, ihn aus der Partei auszuschließen.

Merkel ist mächtiger denn je

So war das anno 2004. Inzwischen ist Stoiber Geschichte. Den Namen Hohmann hat die Welt vergessen. Die CSU muss froh sein, wenn Merkel bei ihren Wahlveranstaltungen auftritt. Sie ist zum dritten Mal Kanzlerin, „unumstritten die Führerin der Europäer“, wie US-Präsident Obama sagt. Merkel ist mächtiger denn je.

Vor zehn Jahren war sie immerhin eigenmächtig genug, ihren Geburtstag auf ganz spezielle Weise zu begehen. Anstelle einer ordinären Gratulationskur und der üblichen Lobreden mutete die promovierte Physikerin ihren Gästen einen provokanten wissenschaftlichen Vortrag zu. Der Hirnforscher Wolf Singer dozierte über die „Utopie der Planbarkeit der Zukunft“.

Die Gratulanten konnten an jenem Abend lernen, wie wenig ihre Gastgeberin sich den Schablonen des Politikbetriebs fügt. Singers Thesen ließen erahnen, dass Merkels Denkhorizonte nicht an den Grenzen des CDU-Weltbilds enden. Die Honoratioren der Union mussten es sogar erdulden, dass der Festredner ihre Glaubensfundamente infrage stellte. Er sprach von der Erwartung, dass „religiöse Systeme“ im 21. Jahrhundert zusammenbrechen würden. Einen „Lenker“ menschlicher Handlungen gebe es im Jenseits so wenig wie innerhalb des Gehirns. Die konservative FAZ schrieb empört: „Dass sich die Vorsitzende der CDU zu ihrem Geburtstag einen Forscher wünschte, der das Christentum zu einer wissenschaftlich überholten Denkform erklärt, ist ein historisches Datum.“

Ein Vortrag „Über die Zeithorizonte der Geschichte“

Am Donnerstag ist auch ein wichtiges Datum: Merkels 60. Geburtstag. Und die Jubilarin hat sich wiederum etwas ganz Besonderes ausgedacht, wie sie ihn zu feiern gedenkt. Zu dem Geburtstagskränzchen im Adenauerhaus sind 1000 Gäste eingeladen, darunter sämtliche Minister, die unter Merkels Regie schon regieren durften. Die Festrede wird wiederum ein Wissenschaftler halten. Diesmal geht es jedoch nicht um die Zukunft, sondern um die Vergangenheit. Der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel spricht „Über die Zeithorizonte der Geschichte“.

Die Lehren dieses Mannes gelten in seiner Zunft als ähnlich unorthodox wie Merkels Politikstil unter ihresgleichen. Osterhammels Erkenntnisinteresse gilt der Weltgeschichte und der Frage, wie sie wurde, was sie ist. Er blickt nicht durch die nationale Brille. Der Kanon seiner Forschung reicht von der Globalisierung bis zur „musikalischen Kommunikation“.

Osterhammels bekanntestes Werk („Die Verwandlung der Welt“) war ein Bestseller, obwohl er seinen Lesern eine ungewohnte Begrifflichkeit zumutet. Er verbreitet sich über „Metageografie“, „Sattelzeit“ und „weltweiten Eigensinn“ – und dies auf 1568 Seiten. Dem Vernehmen nach hat eine persönliche Freundin die Kanzlerin auf diesen originellen Wissenschaftler aufmerksam gemacht. Er ist aber seit geraumer Zeit auch mit Merkels Mann bekannt, dem Chemiker Joachim Sauer. Beide gehören der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an.

Osterhammels globale Perspektive entspricht derjenigen Merkels, seit sie Deutschland regiert. Je länger sie das tut, desto mehr scheinen sich die Schwerpunkte ihres politischen Engagements auf internationale Themen zu verschieben: Sie war die starke Frau Europas, als der Euro schwach wurde. Sie ist die wichtigste Krisendiplomatin im Konflikt um die Ukraine. Wegen der Spionageaffäre hat sie erstmals den USA die Stirn geboten. Im kommenden Jahr wird Merkel die Präsidentschaft unter den wichtigsten Industriestaaten der Welt (G 7) übernehmen. Dann könnte sie auch in der früheren Rolle als Klimakanzlerin wieder gefragt sein.

Spekulationen über einen vorzeitigen Rücktritt

Der Festvortrag am Abend ihres 60. Geburtstags befeuert Mutmaßungen über Merkels Zukunft – gerade weil er sich der Vergangenheit widmet. Arbeitet die Kanzlerin bereits an einer politischen Bilanz? Richtet sich ihr Blick nach der dritten Wahl ins höchste Regierungsamt allmählich auf die Frage, wie sie in die Annalen der Republik eingehen wird? Auf dem Zenit der Macht beginnt das Gerede über die Endlichkeit ihrer Herrschaft. Der „Spiegel“ spekuliert über einen vorzeitigen Rücktritt. Merkel reize vielleicht die Aussicht, als erste Regierungschefin selbst das letzte Kapitel im Drehbuch ihrer Karriere zu schreiben.

Frühzeitig hatte Merkel schon zu Protokoll gegeben, dass sie sich ein Leben ohne Politik durchaus vorstellen könne. „Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg finden“, sagte sie in einem Interview vor 15 Jahren. „Dann will ich kein halb totes Wrack sein.“

Wann sie den „richtigen Zeitpunkt“ für gekommen hält, wird sie kaum mit irgendwelchen Herrschaften diskutieren, die der „Spiegel“ als anonyme Kronzeugen anführt. Merkel ist ein Pflichtenmensch. Noch ähnelt ihre dritte Kanzlerschaft wenig jener bleiernen Zeit der Kohl-Dämmerung. Noch verdankt die CDU ihr vor allem formidable Umfragewerte.

Solange das Risiko droht, dass die SPD im Falle eines überraschenden Wechsels im Kanzleramt kurzerhand die Koalition platzen lässt, wird sie ihre Partei kaum im Stich lassen. Zudem hat Merkel erst am Sonntag wieder der Fernsehnation versichert, dass sie die komplette Legislaturperiode abzuleisten gedenke. Dieses Versprechen gelte ganz „selbstverständlich“.