Bundespräsident in Stuttgart Steinmeier: Demokratie braucht Geduld
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier startet seine zweitägige Baden-Württemberg-Tour in Stuttgart. 200 Schüler aus dem Südwesten konfrontieren das Staatsoberhaupt im Landtag mit ihren Problemen und Wünschen an die Politik.
Stuttgart - Ein Staatsoberhaupt kann Gesetze aufhalten – er kann nicht die Gesetze der Zeit außer Kraft setzen. Das gilt auch, wenn das Programm so eng gestrickt ist wie beim Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Montag und Dienstag in Baden-Württemberg. Gnadenlos wird ihm bei einer Diskussion mit 200 Schülern im Stuttgarter Landtag unter Verweis auf die Uhr das Wort abgeschnitten. Je drei Minuten Kritik und Wünsche eines Schülervertreters soll er in einer Minute beantworten – fast unmöglich. „Demokratie ist auch eine Frage der Geduld“, resümiert Steinmeier später beim Empfang zwei Etagen höher. „Es braucht manchmal Zeit, um sich anzunähern.“
Demokratie ist das Leitmotiv seiner Deutschland-Reise, an deren fünfter Stelle nun Baden-Württemberg steht. Demokratie heißt auch, andere Meinungen zuzulassen. Ohne Scheu legen die Sprecher diverser Gruppen, die zuvor die Themen definiert hatten, dem Staatsoberhaupt ihre Vorstellungen ans Herz: Mehr Basisdemokratie mit einem Wahlrecht ab 16 Jahren, bundesweite Volksentscheide und Jugendpetitionen mit einem Anhörungsrecht in Parlamentsausschüssen wünscht sich zum Beispiel Benjamin Wasmer aus Freiburg. Und er moniert die Parteispendenpraxis durch Unternehmen.
Antworten im Twitterformat sind nicht sein Ding
Doch im Twitterformat von 140 Zeichen auf jeden Punkt eine knappe Antwort zu finden, um möglichst viel hineinzupacken, ist nicht Steinmeiers Sache. Staccato-Repliken ist er aus seinem früheren Amt als Außenminister gar nicht gewohnt. Also lässt er vieles weg und geht vor allem auf die Parteienfinanzierung ein. „Ich verstehe die Skepsis“, sagt er. Aber Deutschland habe mit dem hohen Anteil an staatlichen Zuschüssen und einem kleinen Anteil an Spenden ein einzigartiges System, das Abhängigkeiten wie in Osteuropa von Oligarchen verhindere. Als Steinmeier zur Türkei schwenkt, fragt er: „Wie viel Zeit habe ich noch?“ Antwort des Moderators: „Sie waren eineinhalb Minuten darüber – aber es war ja auch sehr spannend.“
„Europa ist gar nicht so schlecht“, sagt Katharina Csik aus Waldbrunn. Es sollte in der Schule eine viel größere Rolle spielen – und man müsse seine Vorteile mehr nach vorne stellen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der in der ersten Reihe zuhört, bekundet später: Ihn habe „sehr berührt“, wie sehr die Jugend den Blick über Deutschland hinaus richte. Steinmeier bieten solche Fragen die passenden Vorlagen für seine in Stein gemeißelten Botschaften: „Demokratie wird nur überleben, wenn sich Menschen wie ihr dafür engagieren“, sagt er. „So ähnlich ist es mit Europa.“ Man müsse an die historische Bedeutung Europas denken und den Blick nach vorne richten. Steinmeier wendet sich aber dagegen, Schule zu überfordern, um eine bessere Eingliederung von Fremden zu gewährleisten. „Ein bisschen Integration muss auch woanders stattfinden.“
Bewusstsein für junge Homosexuelle
Über eine „faire Globalisierung“ mit einer Verteilung des Reichtums will Hannah Van Santvliet aus Heidelberg mit dem Bundespräsidenten reden, woraufhin dieser seine Hoffnung äußert, dass auf diesem Weg noch andere Staaten mitgehen. Valentin Gashi aus Stuttgart konfrontiert Steinmeier mit den Problemen Homosexueller im Jugendsport, der zu sehr auf Heterosexuelle ausgerichtet sein. Der Bundespräsident zeigt ein Bewusstsein für derlei Sorgen gerade im ländlichen Raum und verweist auf die Entwicklung in den Städten. „Da verändert sich einiges“, sagt er. „Ich verstehe aber, wenn es euch nicht schnell genug geht.“ Er nutzt diese Gelegenheit, die „Aggressivität und Maßlosigkeit der Sprache“ in den sozialen Netzwerken anzuprangern. Da brauche er nur seine eigene Facebook-Seite anzuschauen. Am Ende sind die Jugendvertreter zufrieden – auch wenn es zeitlich sehr eng gewesen sei, wie sie unisono feststellen. Steinmeier war „sehr entspannt“ und habe zugehört, befindet Valentin Gashi. „Es war okay", sagt er – bevor Parlamentspräsidentin Muhterem Aras den hohen Gästen eine Grünpflanze und einen Wanderrucksack überreicht.
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