Vor 70 Jahren wurde Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten gewählt. Das heutige Staatsoberhaupt würdigt bei einem Besuch in Stuttgart die Leistung seines Vorgängers – und findet viele Bezüge zur Gegenwart.

Stuttgart - Es könnte ein ruhiger Spätsommervormittag sein in der Villengegend rund um den Bismarckturm im Stuttgarter Norden, untermalt nur vom schaffigen Knattern der Rasenmäher und Heckenscheren. Im Feuerbacher Weg ist es aber anders als sonst. Halteverbotsschilder stehen am Straßenrand, Polizisten riegeln Einfahrten ab, schwere Limousinen heimischer Provenienz rollen heran: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht mit seiner Frau Elke Büdenbender das Wohnhaus seines Vorgängers Theodor Heuss. Auf den Tag genau 70 Jahre ist es her, dass Heuss zum ersten Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde.

 

Führung durch das Wohnhaus von Heuss

Steinmeier und sein Gefolge werden von Thomas Hertfelder, dem Geschäftsführer der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, auf eine Zeitreise mitgenommen, die vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts bis zu den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg reicht, in ein von Not geprägtes und die Nazidiktatur verdrängendes Land an der Schwelle zum Wirtschaftswunder. Im Arbeitszimmer, in dem ein graues Wählscheibentelefon, ein Röhrenradio und vollgestopfte, deckenhohe Bücherwände den Charme der 50er Jahre verströmen, nimmt Steinmeier am Schreibtisch seines Vorgängers Platz – und spannt, umgeben vom Interieur, das so gar nicht in unsere Zeit passen will, den Bogen zur aktuellen Innenpolitik. Es sei eine „große Ehre“, hier zu sitzen, sagt er. Heuss sei ein großer Bundespräsident gewesen, weil er immer Stil und Haltung gezeigt habe. „Ich wünschte mir, dass sich heute alle daran orientieren würden.“

Im Minutentakt geht die Zeitreise weiter, und sie spart auch nicht aus, dass Heuss dem Ermächtigungsgesetz Hitlers im Reichstag zugestimmt hat, was er später als schweren politischen Fehler eingesteht. Und direkt zu seiner „wichtigsten Rede“, so Steinmeier, führt, die er 1952 im Konzentrationslager Bergen-Belsen hielt. Dort bezeichnete er die systematische Ermordung der Juden nicht nur als „tiefstes Verderbnis dieser Zeit“, sondern räumte auch mit der Lebenslüge der noch jungen Republik auf. „Wir haben von den Dingen gewusst“, sagte Heuss sieben Jahre nach dem Ende des Krieges, als dies viele Deutsche nicht hören wollten. Und als Steinmeier – auf Wunsch der Fotografen – sich vor ein Bild des ersten Bundespräsidenten stellt, sagt er, dass Heuss’ Lebensleistung nicht zu überschätzen sei: „Er hat das Amt des Bundespräsidenten erfunden und gestaltet.“ Es erfülle ihn mit Demut, wie Heuss in schwieriger Zeit Verantwortung übernommen habe. „Er hat das Vertrauen in Person und Staat begründet.“

Festakt im Rathaus

Diese Gedanken nimmt Steinmeier in seiner Rede beim Festakt im Großen Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses auf. Heuss habe seine ganze Kraft dafür eingesetzt, die Deutschen an die neuen demokratischen Zustände zu gewöhnen und ihnen eine zivile Liberalität vorzuleben. Der erste Bundespräsident habe sich aber auch für Symbole der neuen Republik starkgemacht, bis hin zu dem jeweils von ihm selbst gestalteten Silbernen Lorbeerblatt und Verdienstkreuz. „Heuss hat etwas bis heute ganz Bedeutendes gespürt: Ein Ja zu diesem Staat, ein Ja zur Demokratie und zur freiheitlichen Ordnung, ein Ja zum solidarischen und toleranten Gemeinwesen wird nie nur im Kopf gesprochen. Auch Gefühl und Herz müssen dabei sein." Wobei Steinmeier betont, dass mit dem Vertrauen in die Person Heuss auch das Vertrauen in den neuen Staat gewachsen sei. „Demokratie“, sagt der Bundespräsident, „lebt nicht zuletzt vom Vertrauen in die, die sie repräsentieren.“ Er spannt den Bogen von Heuss in die Gegenwart auch mit dem Satz: „Es gab und gibt unverlierbar einen Stil, es gibt eine Haltung, eine menschenfreundliche Ausrichtung der Politik, die in schweren Zeiten Bestand hatte und die deshalb auch heute Bestand haben kann und muss.“

Wie schwer das mit dem Stil ist, machen indes die vielen Fotos deutlich, die den freudig Zigarre rauchenden Heuss zeigen. Welcher Politiker würde das heute wagen? Wie wäre die öffentliche Resonanz? Die vorzügliche Lesung von Götz Schneyder und Ernst Wolfgang Becker aus Briefwechseln mit der Bevölkerung am Ende des Festakts offenbart nicht nur die Formulierungskunst des Intellektuellen Heuss. Der erste Bundespräsident setzte sich gegen Vorwürfe von Bürgern auch mit einer Direktheit zu Wehr, die heute zu einem Shitstorm im Netz führen würde.

Stuttgarter Ehrenbürger

„Er war populär, ohne jemals nach Popularität zu schielen“, sagt OB Fritz Kuhn. Mit der Feier im Rathaus solle nicht nur an den Ehrenbürger Stuttgarts erinnert werden, „das ist auch ein Festakt, das dem Amt des Bundespräsidenten gilt, und es ist ein Festakt für die Demokratie“.