Gegen den allseits hofierten Kandidaten formiert sich Kritik. Die ist aber nicht in jedem Fall gut begründet.
Berlin - Mögen auch 90 Prozent der Stimmberechtigten in der Bundesversammlung bei der Präsidentenwahl für Joachim Gauck stimmen – der Fünfparteienkandidat hat nicht nur Freunde. Auch aus dem Lager, das ihn unterstützt, melden sich kritische Stimmen. Im Internet macht die Mär vom bösen Gauck die Runde. Sie lässt sich mit zwei Sätzen zusammenfassen, die auf der Kommunikationsplattform Twitter massenhaft Beifall finden: „#Gauck ist für #VDS, findet die Überwachung der Linken gut, äußerte sich abfällig über #Occupy und lobte Sarrazin. Darum unwählbar!“ lautete die Botschaft der Bloggerin Julia Probst. Das Kürzel VDS steht für Vorratsdatenspeicherung. Bei differenzierter Betrachtung stellt sich heraus, dass die pauschalen Vorwürfe so nicht haltbar sind.
Ein Befürworter staatlicher Spitzelei?
Der einstige Chef der Stasiunterlagen-Behörde ein Befürworter staatlicher Spitzelei? Diese in der Netzgemeinde inflationär verbreitete Unterstellung beruft sich auf eine Podiumsdiskussion am Wiener Burgtheater. Gauck musste sich dort anhören, wie der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans Christian Ströbele die Vorratsdatenspeicherung verteufelte. Er wies ihn darauf hin, „dass die Speicherung von Telekommunikationsdaten nicht der Beginn eines Spitzelstaates ist“. Insgesamt argumentierte Gauck sehr reflektiert, differenziert und durchaus kritisch gegenüber den Möglichkeiten staatlicher Überwachung. Ohne konkrete Verdachtsmomente und akuter Gefahr im Verzug dürften Grundrechte nicht beschnitten werden. Allerdings hielt er dem Grünen Ströbele auch vor, er baue eine „hysterische Welle“ auf. Die Kritiker sind bei diesem Thema offenbar alle einäugig.
Kein Anwalt der Integration?
Auch die Unterstellung, Gauck mache sich die Thesen des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin zur Integration von Migranten und zum Islam zu Eigen, ist nicht belegt. Dem „Tagesspiegel“ sagte Gauck Ende 2010, Sarrazin habe „Mut bewiesen“. Er habe „über ein Problem, das in der Gesellschaft besteht, offener gesprochen als die Politik“. Politiker könnten daraus lernen, dass „ihre Sprache der politischen Korrektheit bei den Menschen das Gefühl weckt, dass die wirklichen Probleme verschleiert werden sollen“. Gauck wandte sich zugleich gegen einen Parteiausschluss Sarrazins aus der SPD. Man müsse nicht „demjenigen Sanktionen androhen, der ein bestehendes Problem offen anspricht“.
Kritisch ließe sich anmerken, dass Gauck kritiklos die von Sarrazin werbewirksam vorgetragene Behauptung übernahm, über misslungene Integration zu reden sei ein Tabubruch. Außerdem verwendet Gauck eine in der rechten, islamophoben Szene gängige Formulierung. „Politisch korrekt“ nennen deren Wortführer alles Schlechte, das sie einem politisch-medialen linken Zeitgeist zuordnen. „Politically incorrect“ heißt eine einschlägige Seite im Internet, die islamfeindliche Texte verbreitet. Dies alles rechtfertigt zwar das Bedürfnis nach klärenden Worten, mehr aber auch nicht. Den umstrittensten Baustein der Argumentation Sarrazins, wonach Menschen türkischer Herkunft erblich bedingt weniger intelligent seien, hält Gauck für Unsinn. Es erscheine ihm notwendig, sagt er in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“, „genauer zu differenzieren und nicht mit einem einzigen biologischen Schlüssel alles erklären zu wollen“. Das Integrationsproblem bestehe „nicht darin, dass es Ausländer oder Muslime gibt, sondern es betrifft die Abgehängten dieser Gesellschaft“.
Mehr Verwürfe gegen den Kandidaten
Dass sich linke Gruppierungen über Gaucks sozialpolitische Positionen empören, war zu erwarten. Gauck vertritt von jeher liberale Positionen, die eine harte Gangart gegenüber jenen einschließt, die seiner Ansicht nach keine Verantwortung für ihre Existenz übernehmen wollen. Über das Leben von Hartz-IV-Empfängern, die keinen Sinn darin sähen, ihre Kinder zur Schule zu bringen, sagte Gauck der „Süddeutschen“, es sei „keine Tugend“, wenn man „dort sitzt, den ganzen Tag Zeit hat und den Gören kein Mittag macht. Das darf man auch kritisieren“.
Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) lobte er für seinen „Mut“, den Arbeitsmarkt zu reformieren. Die Deutschen stellten sich „nicht gern die Frage, ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen“. Darüber müsse „gestritten werden. Gauck plädiert für ein selbstbewusstes Bürgertum, dass nicht bei jeder Gelegenheit nach dem Staat ruft: „Welche Regierung auch immer regiert, es wird an sie die Forderung herangetragen werden: Vater Staat, sei väterlich! Wenn man das zu oft fordert, läuft man Gefahr, in den Status des Kindes herabzusinken.“
Gegner der Occupy-Bewegung?
Ist Gauck ein Freund der Finanzjongleure? Ihm wird auch vorgeworfen, er habe die antikapitalistischen Demonstrationen der Occupy-Bewegung als „unsäglich albern“ bezeichnet. Tatsächlich bezog sich seine Kritik nicht auf den Protest als solchen, sondern auf die Forderung, die Europäische Zentralbank abzuschaffen und möglichst gleich das komplette marktwirtschaftliche System. Eine solche Weltsicht sei naiv oder zumindest romantisch, sagt Joachim Gauck. Gegenüber „politischen Reaktionären in Rot“ sei er sehr skeptisch, so der Präsidentschaftskandidat in einem Interview mit dem Fernsehsender 3Sat, weil er das Gefühl habe, solche Leute wollten ihn „irgendwo hinlocken, wo ich schon mal war, aber eigentlich nicht noch mal sein möchte“.
Im Osten der Republik kursieren viele Gerüchte, die sich auf Gaucks Leben vor dem Mauerfall beziehen. Dabei geht es unter anderem um angebliche Kontakte zur Stasi und um Westreisen zu DDR-Zeiten. Zu seinen heftigsten Kritikern zählte schon in den neunziger Jahren Peter-Michael Diestel, DDR-Minister in der Wendezeit. Die Motive der Gegner sind in vielen Fällen zumindest dubios.
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