Gauck ist kein bequemer Bundespräsident. Das hatte er sich zu Beginn vorgenommen. Und er ist es geblieben: notorisch unangepasst. Jetzt hat er verkündet, dass er nicht für eine zweite Amtszeit zur Verfügung steht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - „Was für ein schöner Sonntag!“ Joachim Gauck hat ein verknittertes Manuskript vor sich ausgebreitet. Es sieht aus, als trage er das Papier schon geraume Zeit mit sich herum. Es sind Gedanken, die ihn seit Langem umtreiben. Doch es geht nicht um seine Zukunft. Es geht um seine Vergangenheit.

 

Die Szene spielt vor mehr als vier Jahren. Es ist der Tag, an dem Gauck Bundespräsident wird, der 18. März 2012. „Was für ein schöner Sonntag!“, so lautet sein erster Satz als Staatsoberhaupt. Der ist weder seinem Wahlerfolg noch dem sonnigen Frühlingswetter gewidmet. Gauck erinnert sich in jenem Moment an einen anderen „schönen Sonntag“: Das war auf den Tag 22 Jahre vor seiner Kür zum Präsidenten, am 18. März 1990. Damals wurde Gauck, aufgewachsen in der DDR, vom Untertan zum Staatsbürger. An jenem Tag durfte er, mit 50 immerhin, erstmals in seinem Leben frei wählen. Diese Erfahrung ist Gaucks Antriebsmoment, sein Lebensthema. Es bestimmt sein Denken, seinen Blick auf die Welt, sein Verständnis von Politik. Als Präsident hoffte er inständig, seine Erfahrungen als Bürger bewahren zu können. Seine ganz persönliche Hoffnung sei, so formulierte er damals, „dass bei den Auftritten des Bundespräsidenten Gauck der Bürger Gauck noch um die Ecke schaut“.

Der Inbegriff eines Bürgers

Nun hat Gauck erklärt, nicht mehr für eine zweite Amtszeit kandidieren zu wollen – getrieben von entsprechenden Spekulationen. Eigentlich wollte der 76-Jährige selbst den Termin setzen, wann er sich zu seinen Zukunftsplänen äußert. Aber auch ein Staatsoberhaupt ist nicht Herr der Gerüchteküche und Gebieter über Indiskretionen.

Der erste Mann im Staate hat nach gut vier Jahren Amtszeit viele Gelegenheiten hinter sich, bei denen die Leute den Präsidenten zu sehen bekommen haben, aber der Bürger noch um die Ecke geschaut hat. Als Inbegriff eines Bürgers kam er überhaupt ins Amt. Schon 2010 wurde ihm der höchste Posten der Republik offeriert. Er galt damals als Kontrastmodell zum Politprofi Christian Wulff, den die Union aufbot. Es herrschte eine regelrechte Gauck-Hysterie. Für viele verkörperte der Quereinsteiger, was sie sich statt der aus dem Fernsehen bekannten Politikertypen wünschten: einen normalen Mann, verlässlich, glaubwürdig, unverstellt. Einen, der keine Textbausteine ausspuckt. „Es ist nie so, dass er öffentlich B sagt, wenn er eigentlich A meint“, versichert einer seiner Vertrauten.

Merkel und Gauck respektierten sich schließlich

Eine größtmögliche Koalition hat ihm dann ins Präsidentenschloss verholfen. Nach Wulffs Scheitern musste die Kanzlerin den Mann der Opposition akzeptieren. Er war ein Konsenskandidat, erwies sich aber keineswegs als Konsenspräsident. Er sei ein „linker, liberaler Konservativer“, sagt Gauck selbstironisch. Sein Verhältnis zu Merkel war nie so verkrampft, wie deren hartnäckige Weigerung vermuten ließ, Gauck als Präsidenten zu akzeptieren. „Ich kann sie nicht erkennen“, so beurteilte er noch zu vorpräsidialen Zeiten ihren Regierungsstil. Die beiden haben sich zu respektieren gelernt. Noch immer ist Gauck indes der Ansicht, worauf Merkel eigentlich hinauswolle, sei „nicht einfach zu lesen“. Aus dem Kreis der Leute, denen beide vertraut sind, heißt es: „Sie nervt manchmal seine Kantigkeit, ihn ihre Geländegängigkeit.“

Wie Merkel ist Gauck der erste Ostdeutsche in seinem Amt. Die Mentalität vieler Ostdeutscher ist ihm gleichwohl zuwider. Er kann sich wunderbar aufregen über das unaufhörliche Gejammer, die ewigen Minderwertigkeitskomplexe, das Selbstmitleid und die Lethargie mancher seiner Landsleute. Ihr Gerede erinnert ihn an eine Lieblingslektüre: „Die Furcht vor der Freiheit“ von Erich Fromm. Darüber redet er gerne und lange in Hotelbars, wenn das offizielle Protokoll eigentlich Feierabend vorgesehen hat. Gauck sagt: „Was uns frei macht, macht uns auch Angst.“ Damit lässt sich vieles erklären, was nicht nur viele Ostdeutsche umtreibt. Der Präsident spricht manchmal wie eine Art Volkstherapeut.

Wortgewaltig – aber nicht immer pastoral

Gauck führt sein Amt, als sei er der oberste Prediger der Nation. Er kann den erlernten Beruf Pastor nicht ablegen wie den Talar. Seit Richard von Weizsäcker hat kein Bundespräsident mehr so pointierte, geschliffene und wortmächtige Reden gehalten. „Manchmal mache ich sicher zu viele Worte“, sagt Gauck selbstkritisch. Nicht alle seine Worte klingen pastoral. Manchmal spricht er die zur Ehre seines Besuchs versammelten Honoratioren auch kess als „Häuptlinge“ an, nennt Nazis „Spinner“ oder die Leute von der AfD „Dödel“, wie jüngst auf dem Katholikentag.

Gauck ist ein unbequemer Präsident. Das hatte er sich vorgenommen. Und er blieb es: notorisch unangepasst. „Pastor Störenfried“ nannte ihn der „Spiegel“. Zu DDR-Zeiten war er keineswegs ein Held des Widerstands, „kein Fundamentaloppositioneller“, wie er selbst sagt. Gleichwohl hat die Stasi sein „anmaßendes, freches Auftreten“ registriert.

Er werde gewiss in viele Fettnäpfchen treten, schwante ihm schon zu Dienstbeginn. So kam es dann auch. Gauck sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, er betreibe eine Art Nebenaußenpolitik. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, es hat ihn aber nie irritiert. Diplomatische Erwägungen hielten ihn nicht davon ab, dem türkischen Potentaten Erdogan die Leviten zu lesen. Ein Querschuss ähnlichen Kalibers waren die Absage an eine Olympia-Visite bei Putin, die Weigerung, nach Moskau zu reisen, und demonstrative Ignoranz für die Verdienste der Russen im Kampf gegen Hitler.

Er hielt mehr als eine Ruck-Rede

Gauck hat sich nie so aufgeführt, als wolle er sich zufriedengeben mit der Rolle des ranghöchsten Grüßgottonkels der Republik. In der Tradition seines Amtsvorgängers Roman Herzog hat er eine Reihe von Ruck-Reden gehalten. Zum Beispiel im Januar 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz: Deutschland müsse sich international stärker engagieren und mehr Selbstbewusstsein zeigen, so lautete seine Botschaft. Damit rüttelte er die Nation auf, entzweite sie aber auch. Das war durchaus in seinem Sinne. Die Rede hatte etwas von einer Bußpredigt. Sie richtete sich auch gegen die Bequemlichkeit der Deutschen, eine moralische Selbstgerechtigkeit, die jüngst der Historiker Heinrich August Winkler mit Blick auf Merkels Flüchtlingspolitik wieder zur Sprache brachte. Das Thema entfachte in Gauck einen regelrechten Furor. Er scheute sich auch nicht, vor Bundeswehrsoldaten darüber zu sinnieren, warum militärische Gewalt „notwendig und auch sinnvoll“ sein könne. Selbst aus dem eigenen Freundeskreis erfuhr er bittere Widerworte für solche Sätze. Manche verstiegen sich zu absurdesten Vergleichen mit den tragischen Figuren deutscher Großmannssucht. Nie zuvor hatte sich ein Bundespräsident vorwerfen lassen müssen, er sei ein „Kriegshetzer“.

Am Ende lobt ihn auch die Kanzlerin

Er habe sich plötzlich ertappt, dass er stolz auf sein Land sei, sagte Gauck einmal. Dieser Stolz sei ihm wichtig – „zu wichtig, um ihn Bekloppten zu überlassen“. Sein eigentliches Anliegen als Präsident könnte man im besten Sinne liberal nennen. Er wolle deutlich machen, so drückt es ein Vertrauter aus, dass das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ nicht banal sei.

Angela Merkel war es vorbehalten, Gauck zu loben, noch bevor er Bundespräsident wurde. Sie durfte bei seinem 70. Geburtstag die Laudatio halten. Es waren unerwartet hymnische Worte, die Merkel an den Jubilar richtete. Sie wären geeignet gewesen, Gauck zu einer zweiten Amtszeit zu ermuntern, wenn auch vergeblich. „Danke, dass es Sie gibt!“, sagte die Kanzlerin damals. „Danke, dass Sie da sind!“