Mit dem Teilhabegesetz will die Regierung behinderten Menschen eine umfassende Eingliederung ermöglichen. Die Reformpläne stoßen allerdings auf flächendeckenden Protest der Betroffenen.

Berliner Büro: Norbert Wallet (nwa)

Berlin - Bildhafter lässt sich die politische Botschaft nicht verpacken: Mehr als ein Dutzend blinde und sehbehinderte Menschen sprangen an diesem Mittwoch vor dem Berliner Reichstag mit ihren Begleitern in die Spree. Die Politik, so das Signal an die Parlamentarier, sorge dafür, dass den Behinderten in Deutschland das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht.

 

Die Aktion versteht sich als Protest gegen das „Bundesteilhabegesetz“, das am heutigen Donnerstag in den Bundestag eingebracht wird. Hinter dem sperrigen Titel verbirgt sich das vielleicht ehrgeizigste gesellschaftspolitische Vorhaben der Koalition in dieser Wahlperiode: In Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention soll das neue Gesetz dafür sorgen, Behinderten mehr selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Ein Herzstück des fast 400-seitigen Gesetzentwurfs ist die Absicht, die Eingliederungshilfe aus dem bisherigen Fürsorgesystem der Sozialhilfe herauszuführen.

In den Reihen der Behinderten-Verbände herrscht Unzufriedenheit

Das Gesetz entstand in einem jahrelangen Diskussionsprozess, an dem die Betroffenenverbände intensiv beteiligt worden sind. Wenn dabei das Ziel gewesen ist, kritische Positionen frühzeitig einzubinden, ist das Arbeitsministerium unter Ressortchefin Andrea Nahles (SPD) allerdings gescheitert, denn in den Reihen der Behinderten-Verbände herrscht flächendeckend große Unzufriedenheit. Auch Hubert Hüppe (CDU), der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, räumt im Gespräch mit unserer Zeitung ein, dass „die Betroffenen seit Jahren nicht mehr so politisiert gewesen sind wie derzeit“.

Die größte Befürchtung der Verbände fasst Ottmar Miles-Paul, der Koordinator des Protestes, so zusammen: Wir fürchten, dass ein Gesetz, welches die Lage der Behinderten verbessern sollte, dazu führt, dass am Ende weniger Personen überhaupt berechtigt sind, Eingliederungshilfe zu beziehen.“ Ganz abwegig ist die Vermutung nicht. Grund für die Sorge ist eine Neufassung des Begriffs der Behinderung, der im Ansatz zweifellos gut gemeint ist. Behinderung knüpft - zurecht - nicht mehr primär an der körperlichen Befindlichkeit des Menschen an, sondern an seiner Fähigkeit, mit seiner konkreten Umwelt in Austausch zu treten. Vom Lernen und Wissensanwendung, über das häusliche und soziale Leben oder die Fähigkeit, in Kommunikation einzutreten bis hin zur Mobilität werden solche konkreten Felder des Umweltkontakts definiert. Das ist alles gut gedacht: Behinderung ist keine persönliche Eigenschaft, sondern entsteht aus Defiziten im konkreten Austausch.

Eingliederungshilfe soll nur unter bestimmten Voraussetzungen fließen

Der Haken des Gesetzes wird erst erkennbar, wenn es ans Eingemachte geht - ans Geld. Eingliederungshilfe soll nämlich erst dann fließen, wenn die Betroffenen nachweisen können, dass sie in mindestens fünf der neun definierten Lebensbereiche eingeschränkt sind. Das ist durchaus heikel. Ottmar Miles-Paul nennt das Beispiel des „sehbehinderter Studenten“. Der bekommt zwar heute selbstverständlich Hilfe, werde es in Zukunft aber schwer haben, gleich fünf Felder der Einschränkung glaubhaft nachzuweisen. Ein Gehörloser hat in der Regel nur in den Bereichen Kommunikation und Bildung Assistenzbedarf. Ist das bald zu wenig? Das gelte erst Recht für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung oder für geistig Behinderte. „Die müssen sich dann vor den Ämter wieder kleiner machen als sie sind“, sagt Miles-Paul.

Es gibt weitere Gründe für den Protest. Ziel des Gesetzes soll es sein, entscheidende Verbesserung bei der Anrechnung von privatem Vermögen vor Auszahlung von Hilfen zu erreichen. Ab 2020 soll die Regelungen zur Anrechnung des Vermögens des Lebenspartners ganz wegfallen und der Vermögensfreibetrag auf 50000 Euro steigen. Auch da steckt der Teufel im Detail. Die meisten Personen, die zur Eingliederungshilfe auch Hilfe zur Pflege bekommen, dürfen auch nach den neuen Regelungen nicht wirklich sparen.

Der Protest ist so heftig und flächendeckend, dass die Einbringung des Gesetzentwurfs weniger ein Endpunkt als der Auftakt weiterer intensiver Beratungen sein wird. Bei Union und SPD gibt es Signale, noch Veränderungen am Gesetzestext vorzunehmen.