Die Beziehungen mit Indien stehen im Schatten derer zu China. Kanzlerin Merkel will das ändern und reist am Donnerstag nach Neu-Delhi.

Berlin - Indien steht nicht im Fokus deutscher Außenpolitik. Der richtet sich traditionell auf die Europäische Union, die transatlantischen Beziehungen und Russland. Im Zuge der Flüchtlingskrise wurde Afrika neu entdeckt, während der Antiterrorkampf den Nahen und Mittleren Osten schon früher auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Weiter östlich konzentriert sich die Berliner Politik vorrangig auf China, 13 mal hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Volksrepublik bereits besucht. Indien, das wie das Reich der Mitte 1,3 Milliarden Menschen zählt, steht in dessen Schatten. „Deutschland hat diese langjährige Liebesbeziehung mit China“, sagt Amrita Narlikar, die indischstämmige Präsidentin des German Institute of Global and Area Studies in Hamburg, „während Indiens Interesse weitgehend unerwidert bleibt.“

 

Das spiegelt sich in den Zahlen. Indien ist die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt, rangiert auf der Liste deutscher Handelspartner aber nur auf Platz 26. Ausgeführt werden vor allem Maschinenbauprodukte, eingeführt in erster Linie Textilien. Es gibt mehr als 1600 Wirtschaftskooperationen und etwa 600 Joint Ventures. Trotz stetiger Steigerungen in den vergangenen Jahren lag das Volumen des Warenaustauschs mit Indien 2018 lediglich bei 18 Milliarden Euro, während das mit China bereits auf 199 Milliarden Euro angewachsen ist.

Zeit für den nächsten Schritt mit Indien

Um die Lücke zu verkleinern, reist Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Donnerstag mit zehn Ministern und Staatssekretären nach Neu-Delhi zu den fünften deutsch-indischen Regierungskonsultationen, die alle zwei Jahre stattfinden. „Wir wollen unsere bilateralen Beziehungen weiter festigen, von Indien lernen, aber auch unsere technologischen Entwicklungen in Indien platzieren“, sagte die Kanzlerin in ihrer jüngsten Videobotschaft. Geplant sei, „in der gesamten Breite unserer Politik über die Zukunftsfragen zu sprechen“.

In einer Resolution, die der Bundestag der Regierung mit auf den Weg gibt, wird klarer ausgesprochen, worum es geht. Es sei, heißt es dort, „an der Zeit, die deutsch-indischen Beziehungen auf eine neue Ebene zu heben“. Das hat zum einen ökonomische Gründe, da die deutsche Wirtschaft einen der größten Absatzmärkte der Welt noch nicht voll erschlossen hat – was auch daran liegt, dass 2007 begonnene Freihandelsgespräche zwischen der EU und Indien nicht vom Fleck kommen. Das Parlament gibt die Devise aus, „sich noch eindeutiger als bisher strategisch im indischen Markt zu positionieren“.

Politisch liegt eine engere Kooperation mit der größten Demokratie der Welt ohnehin auf der Hand – nicht zuletzt auf internationaler Ebene. „1,3 Milliarden Demokratinnen und Demokraten, gerade in diesen Zeiten, in einer zunehmend autoritären Welt, sollten für uns als Partner unverzichtbar sein“, so Außenminister Heiko Maas (SPD) im Bundestag.

Ein strategisches Partnerschaftsabkommen existiert schon seit dem Jahr 2000 – nun aber soll wirklich ernst gemacht werden. Da der Nationalismus zurückkehrt und sich alte Partner wie die USA neu orientieren, soll ein echtes Bündnis mit Indien her. „Um den Multilateralismus und die Demokratie zu retten, können wir uns nicht allein auf die Wirtschaft konzentrieren“, meint die Institutsleiterin Narlikar, „gesellschaftlicher ,Wandel durch Handel‘ funktioniert nicht, wie das Beispiel China zeigt.“ Es brauche mehr denn je „eine werteorientierte Außenpolitik, für die das demokratische Indien ein idealer Partner wäre. Gerade Europa muss neue Bündnisse mit Gleichgesinnten schmieden, wenn es in der Welt von morgen bestehen will“.

Entsprechende Vorarbeit hat die Bundesregierung bereits geleistet. Im September schloss sich Indien neben 80 weiteren Staaten Deutschlands informeller „Allianz für den Multilateralismus“ an. Es ist das Gegenmodell zur neuen Großmächtekonkurrenz von USA, Russland und China. Gemeinsam mit der Bundesrepublik, Brasilien und Japan setzt sich Indien für eine Reform der Vereinten Nationen und einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat ein, um ihn an die neue globale Realität anzupassen.

Neu-Delhi will auf der Weltbühne mitmischen

Die Gelegenheit ist auch auf indischer Seite günstig. Das Land hat 1991 eine vorsichtige Öffnung eingeleitet, mittlerweile seine historische Zurückhaltung auf der Weltbühne aufgegeben und unter Premierminister Narendra Modi von der nationalkonservativen Hindu-Partei BJP seinen globalen Gestaltungsanspruch auch öffentlich bekundet. Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins ist, dass die Atommacht Indien dieses Jahr zur Weltraummacht geworden ist – das Militär schoss im März einen Satelliten ab, was sonst nur die USA, China und Russland können. Einher ging das mit dem Versprechen, die Waffe nur zum eigenen Schutz einzusetzen.

Eine militärische Kooperation mit Indien ist bisher nicht vorgesehen, wobei auch maritime Sicherheit und freie Schifffahrtswege auf der Agenda stehen. Der Schwerpunkt liegt aber auf den Bereichen Wirtschaft, Forschung und Umwelttechnik. „Indien hat sich gerade auch im Blick auf die Digitalisierung rasant weiterentwickelt“, hat Merkel im Vorfeld ihrer Reise gesagt: „Hier können wir über das Thema Smart Cities, erneuerbare Energien und neue Formen der Mobilität sprechen.“ Indiens Gerichtshof hat gerade in einem Urteil ein Verständnis von Datenschutz festgeschrieben, dass mehr dem europäischen denn dem Standard in den USA oder China entspricht. Deshalb nennt die Indien-Analystin Amrita Narlikar auch die Internetsicherheit als wichtiges Feld der Zusammenarbeit.

Schon jetzt gibt es rund 30 Kooperationsformate, darunter die deutsch-indische „Green Urban Mobility Initiative“, in die über fünf Jahre eine Milliarde Euro fließen soll. Vor ihrem Rückflug nach Deutschland am Samstag will sich Merkel daher die solarbetriebene Metrostation Dwarka Sector 21 in Neu-Delhi anschauen.