Das deutsche Parlament nennt die Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich vor mehr als 100 Jahren „Völkermord“. Die Debatte verlief ruhig und differenziert. Dennoch schwingt Präsident Erdogan jetzt die diplomatische Keule. Das überrascht in Berlin zwar niemanden. Die Frage ist aber, was er sich an zusätzlichen Strafaktionen ausdenkt.

Berlin - Die türkische Reaktion folgte prompt. Nur wenige Minuten nachdem der Bundestag bei nur zwei Enthaltungen und einer Gegenstimme in einer Resolution die Massaker des Osmanischen Reiches an armenischen Christen vor über 100 Jahren als Völkermord gebrandmarkt hatte, zog die Türkei ihren Botschafter aus Berlin ab. Wenig später wurde der Geschäftsträger der deutschen Botschaft in Ankara ins türkische Außenamt zitiert. Der deutsche Botschafter Martin Erdmann war kurzfristig nicht greifbar, weil er sich nicht in Ankara aufhielt. Ähnlich heftig hatte Ankara auch schon reagiert, als Frankreich Ende 2011 ein vergleichbares Urteil fällte. Und die Warnungen, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Gefolgsleute schon im Vorfeld der Abstimmung ausstieß, ließen ein ähnlich ruppiges Verfahren erwarten.

 

Bliebe es dabei, wäre dies für die Bundesregierung gleichwohl zu verschmerzen. Die Sorge ist jedoch groß, dass die ohnehin komplizierte Zusammenarbeit mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan dauerhaft erschwert wird und er womöglich den EU-Türkei-Flüchtlingspakt platzen lässt, von dem vor allem für Kanzlerin Angela Merkel einiges abhängt. Das erklärt, weshalb während der Debatte sich Kanzlerin, aber auch Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier sowie die meisten anderen Minister vertreten ließen. Nur Arbeitsministerin Andrea Nahles, Gesundheitsminister Hermann Gröhe und Innenminister Thomas de Maizière verfolgten persönlich die Debatte, freilich ohne selbst als Redner einzugreifen.

Lammert weist Drohungen entscheiden zurück

Umso klarer bezog Bundestagspräsident Norbert Lammert Stellung. Er verurteilte Angriffe aus den Reihen der türkischstämmigen Bevölkerung, die nicht nur auf Demonstrationen ihren Protest über die, wie sie es nennen, „Völkermordlüge“, zum Ausdruck brachten, sondern in Mails und in den Sozialen Medien vor allem türkischstämmige Abgeordnete unter Druck setzten. Die Abgeordneten würden sich durch Einschüchterungen „bis hin zu Morddrohungen“ vom Kurs abbringen lassen, sagte Lammert: „Drohungen mit dem Ziel, die freie Meinungsbildung des Deutschen Bundestags zu verhindern, sind inakzeptabel“. Zugleich versuchte Lammert, der Debatte die Schärfe zu nehmen. Der Bundestag sei „keine Historikerkommission und kein Gericht“. Deutschland wisse aus seiner eigenen leidvollen Geschichte „noch mehr als andere“, dass die Aufarbeitung der eigenen Schuld „außerordentlich schmerzhaft sein kann“. Sie sei aber zugleich „Voraussetzung für Verständigung, Versöhnung und Zusammenarbeit.“

Redner aller Fraktionen bemühten anschließend ein Leitmotiv, dass sich auch in der verabschiedeten Resolution wiederfindet. Deutschland stehe allein schon deshalb in der Pflicht, den Völkermord klar zu benennen und sich um Aussöhnung zwischen Armenien und der Türkei zu bemühen, weil das Deutsche Kaiserreich von den Massakern damals detailliert Kenntnis hatte und dennoch wegsah, weil man das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg nicht als Verbündeten verlieren wollte. Alle Lager betonten außerdem, dass nicht die heute lebenden Türken und deren Regierung auf der Anklagebank säßen. Sehr wohl trügen diese jedoch die Verantwortung dafür, die Gräben der Vergangenheit zu überbrücken.

Gregor Gysi ist beleidigt mit der Union

So geschlossen das Abstimmungsbild war, so homogen verlief auch die Debatte. Nur selbst gönnten sich Redner ein paar Spitzen auf die politische Konkurrenz. So rügte der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich, dass sich Merkel mit Blick auf die aktuelle Entwicklung reichlich spät bei der türkischen Opposition habe blicken lassen. Und Gregor Gysi war beleidigt, weil Unionsfraktionschef Volker Kauder nicht einmal in dieser Frage mit der Linken gemeinsame Sache machen wollte, weshalb der Antrag auch nur von Union, SPD und Grünen eingebracht werden konnte. Diese „pathologische Ausschließeritis werde der Union noch einmal leid tun, sagte Gysi. Spätestens wenn nach den Wahlen in Berlin „meine Partei in die Regierung kommt, denn dann brauchen sie uns“, fügte er bissig an.

Grünen-Chef Cem Özdemir, als Abgeordneter einer der Initiatoren des Antrags und als Sohn türkischer Eltern besonders betroffen von verbalen Attacken, wollte aus den Anfeindungen keine große Sache machen. Schließlich profitiere er davon, in einem Land zu leben, in dem er nach einer solchen Debatte einfach nach Hause gehen könne, ohne verhaftet, zusammengeschlagen oder gar umgebracht zu werden. „Das gilt nicht für alle unsere Kollegen in der Türkei und das gilt nicht für diejenigen, die sich in der Türkei für die Aufarbeitung einsetzen, darum gilt unsere Solidarität diesen Menschen, denn die haben wirklich was zu verlieren, die zahlen einen hohen Preis“.