Viele Politiker der „Generation Bonn“ verabschieden sich aus dem Bundestag. Ihre Karriere begann noch in der alten Bundeshauptstadt. Was hat sich seitdem verändert? Einige beklagen eine „aberwitzige“ Beschleunigung der Politik.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Der Lange Eugen, ein Monument der deutschen Parlamentsgeschichte, hat dreißig Stockwerke. Deshalb heißt er auch so. Sein Name ist eigentlich ein Witz. Das Hochhaus am Bonner Rheinufer, in dem einst die Abgeordneten des Deutschen Bundestags ihre Büros hatten, als Bonn noch Hauptstadt war, verdankt diese Bezeichnung einer ironischen Anspielung auf die Statur des seinerzeitigen Parlamentspräsidenten Eugen Gerstenmaier. Er war alles andere als ein Hüne.

 

Der Abgeordnete Wolfgang Bosbach verbindet mit dem Langen Eugen ein ganz persönliches Erleben von direkter Demokratie. Sein Schreibtisch stand einst in der 17. Etage des Politikerdomizils. Von dort aus konnte er bei schönem Wetter direkt in den eigenen Wahlkreis blicken. Der liegt auf der anderen Rheinseite rund um seine Heimatstadt Bergisch Gladbach, 45 Minuten mit dem Auto vom Bonner Parlamentsviertel entfernt. Bosbach hatte seine Wähler stets unmittelbar vor Augen.

56 der 630 Abgeordneten haben die Bonner Zeiten selbst erlebt

Für ihn war es deshalb aus höchst privaten Gründen eine Zumutung, als aus der Bonner eine Berliner Republik wurde. 1994 wurde er in den Bundestag gewählt. Davor war er schon geraume Zeit Mitarbeiter des CDU-Abgeordneten Franz Heinrich Krey, der ebenfalls im Langen Eugen residierte. 1999 zog das Parlament in die neue Hauptstadt der wiedervereinigten Bundesrepublik um. Damit vervielfachte sich Bosbachs Arbeitsweg. Seine Wähler bekommt er seitdem nicht mehr täglich zu Gesicht. Wenn er den Kontakt zu ihnen sucht, bedeutet das meist Stress am Wochenende.

Unter den aktuellen Volksvertretern gibt es nicht mehr viele, die von den alten Bonner Zeiten erzählen können. 56 der 630 Abgeordneten, die momentan noch ein Mandat besitzen, haben sie erlebt. Nicht alle hatten ein derart inniges Verhältnis zu jener Epoche wie der Christdemokrat Bosbach. Die Generation der in Bonn sozialisierten Abgeordneten scheidet im Herbst fast komplett aus dem parlamentarischen Betrieb aus: darunter sind der amtierende Bundestagspräsident Norbert Lammert und neben dem Abgeordneten Bosbach der Sozialdemokrat Gernot Erler aus Freiburg und die Grüne Marieluise Beck, die den Wahlkreis Bremen vertritt. Damit erlischt auch eine Dimension der politischen Erfahrung. Als einer der Letzten dieser „Generation Bonn“ stellt sich Finanzminister Wolfgang Schäuble noch einmal der Wahl. Er sitzt schon seit 1972 im Bundestag.

Das Tempo der Politik sei inzwischen „aberwitzig“, sagt Marieluise Beck

Wurde in Bonn anders regiert als in Berlin? Wie hat sich das politische Geschäft verändert? „Das Eigentliche, was sich verändert hat, ist das Tempo“, sagt Marieluise Beck (64). Zu Beginn ihrer Karriere hatte sie in Baden-Württemberg kandidiert. Zu rot-grünen Zeiten war sie Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, zuletzt gehörte sie dem Auswärtigen Ausschuss an. „Die Geschwindigkeit, in der wir Nachrichten produzieren, Botschaften abgeben, auf Botschaften reagieren, wird immer rasanter“, so resümiert sie ihre Eindrücke. Das Tempo der Politik sei inzwischen geradezu „aberwitzig“. Beck fügt hinzu: „Damit wächst keineswegs die Substanz.“ Ihr CDU-Kollege Bosbach, ebenfalls 64, zählt zu den Beschleunigern dieses Prozesses. Er ist ständig auf allen Kanälen präsent, ein gern befragter Interviewpartner, nicht nur, weil seine Parteihierarchen auf Bosbachs Ansichten oft reagieren, als hätten sie eine Fischgräte verschluckt. Er ist auch immer und überall binnen kürzester Zeit erreichbar.

In Talkshows rechnet er zu den Stammgästen – Veranstaltungen, über die Beck sagt, es sei „eine falsche Grundannahme, dass dort Leute zusammensitzen, die sich unterhalten wollen“. Ihr Befund über televisionäre Quasselrunden lautet: „Alle denken nur daran, welche Botschaften sie nach draußen vermitteln wollen; es geht nicht um ein Gespräch.“

„Es gibt immer weniger Geduld“, kritisiert Wolfgang Bosbach

Die Atemlosigkeit der politischen „Hyperkommunikation“ (Beck) beklagt auch Gernot Erler (72), der bis 2009 Staatsminister im Auswärtigen Amt war und bis heute als diplomatischer Missionar im regierungsoffiziellen Dialog mit Russland unterwegs ist. „Es gibt regelrechte Kettenreaktionen“, erklärt er. „Wenn man im ‚Morgenmagazin‘ etwas sagt, kommen gleich fünf Lokalradios hinterher und wollen auch ein Statement haben.“ Sein Eindruck ist: „Bonn war weniger stressig.“ Bosbach sieht es ähnlich. „Die Umdrehungsgeschwindigkeit hat sich immer weiter erhöht“, sagt er. „Was morgens der große Aufreger ist, kommt abends in der ‚Tagesschau‘ vielleicht überhaupt nicht mehr vor.“ Er fühlt sich mehr als Opfer denn als Temposünder bei dieser medialen Raserei. „Es gibt immer weniger Geduld“, bemängelt er, „immer weniger Zeit, mal Gedanken ausformulieren zu können.“ Kollegin Beck fasst es so zusammen: „Wir befinden uns alle in einem großen Schweinsgalopp.“

Nicht nur das Tempo, auch die Qualität der politischen Kommunikation hat sich verändert. Die Unübersichtlichkeit nimmt zu. Manche Botschaften lösen ein scheinbar vielfältiges Echo aus und werden dennoch überhört. „Es ist leichter als früher, in den Medien vorzukommen, aber schwerer, wirklich Aufmerksamkeit zu finden“, sagt Bosbach, „man kommt häufiger zu Wort, gleichzeitig wird die Reichweite begrenzter.“ Becks Erfahrungen klingen wie ein Geständnis: „Wir sind ständig dabei, uns selbst zu vermarkten. Und wer nicht mitmacht, riskiert als nicht präsent wahrgenommen zu werden.“

Beck, Bosbach und Erler verkörpern zusammen 81 Jahre Bundestagsgeschichte

Die drei Politveteranen erleben ihr Publikum als zunehmend anspruchsvoll und leichter reizbar. Bosbach berichtet, er bekomme mehr als 10 000 Briefe und Mails im Jahr sowie etwa 6000 Einladungen. „Die meisten, die auf meine politischen Aussagen reagieren, erwarten ja ihrerseits wieder eine Reaktion, diese Erwartungshaltung darf man nicht enttäuschen.“ Die Diskussionskultur habe sich nicht zum Besseren gewandelt. Zwar seien nur wenige Zuschriften „unter der Gürtellinie“, sagt der Christdemokrat, „aber mittlerweile in einer Tonlage, die selbst für einen fröhlichen Rheinländer nicht mehr akzeptabel ist.“ Früher habe er „gedacht, das ist im Preis inbegriffen“. Inzwischen erstatte er auch Strafanzeige. Das komme einmal sicher im Monat vor. „Manche wollen sich offenbar einfach auskotzen“, so sein Eindruck, „aber für Anmache stehe ich nicht zur Verfügung.“

Beck, Bosbach und Erler verkörpern zusammen 81 Jahre Bundestagsgeschichte. Was würden sie politischen Debütanten raten, die im Herbst neu ins Parlament gewählt werden? Beck kommt mit einem Merksatz aus: „Keine Profilneurosen entwickeln!“ Erler empfiehlt, nicht ständig zu überlegen, was man für den eigenen Wahlkreis herausschlagen kann. Viel wichtiger sei es, ein eigenes „Markenzeichen“ zu entwickeln und sich für ein Anliegen zu engagieren, „ohne Rücksicht darauf, ob das gerade populär oder brisant ist“. Bosbach hält einen Dreierpack von Ratschlägen parat. „Erstens: Die Menschen haben ein ganz feines Gespür dafür, ob ein Politiker ‚bürgernah‘ auf sein Plakat schreibt oder ob er tatsächlich bürgernah ist. Zweitens: besser von einer Sache 100 Prozent verstehen als von zehn Sachen zehn Prozent. Drittens: geradeaus gehen, ich glaube, dass am Ende des Tages honoriert wird, wenn man zu seiner Meinung steht.“

Politiker zu sein ist nicht nur mit Pflichten verbunden, sondern auch ein Privileg

Der Abschied aus dem parlamentarischen Betrieb fällt allen drei nicht leicht. „Ich gebe mir Mühe, nicht in traurige Gedanken zu verfallen“, versichert Erler, sein Blick entgleitet ihm dabei. „Manchmal, wenn ich den Plenarsaal betrete“, sagt Marieluise Beck, „mache ich mir klar, dass da tatsächlich nur Abgeordnete reindürfen und dies für mich definitiv vorbei sein wird.“ Politiker zu sein ist nicht nur mit Pflichten verbunden, sondern auch ein Privileg. Bosbach, die rheinische Frohnatur mit etlichen Karnevalsorden in der persönlichen Ehrengalerie, spricht von „Wehmut und Erleichterung“. Die Parlamentsarbeit habe ihm „jeden Tag Spaß gemacht“, betont er, „dann lässt man auch nicht gerne los“.