Der Pforzheimer Waldemar Birkle stammt mitten aus der Hochburg der AfD. Jetzt will er in den Bundestag.

Enzkreis - Wer das Phänomen „AfD“ verstehen will, muss nach Pforzheim fahren. Bundesweit höchstes Ergebnis bei der Europawahl 2014, höchstes Ergebnis bei der Landtagswahl 2016, größter Wahlkampfstand an diesem Samstag in der Pforzheimer Fußgängerzone.

 

Mittendrin Waldemar Birkle, der lächelt. Ständig kommen alte Bekannte vorbei, Kumpels, Smalltalk, Umarmung. Er ist einer von ihnen. Und jetzt, als Bundestagskandidat, einer für sie. Mehr als die Hälfte der Pforzheimer hat eine Migrationsgeschichte, jeder fünfte ist „Russlanddeutscher“ oder „Aussiedler“. Genauso wie Waldemar Birkle. Geboren ist er vor 44 Jahren in Kasachstan, mit 17 kam er nach Deutschland. Wenn er das erzählt, dann fällt oft das Wort „Schaffen“. Das war schon bei seinen Vorfahren so. Katharina die Große, die Deutsche und die russische Zarin, hat sie geholt. „In Deutschland war ja Hungersnot“, sagt Birkle. „Da haben unsere Vorfahren Deutschland verlassen, und es geschafft, zu überleben.“

Das ist 250 Jahre her, das Deutsche war allenfalls in Birkles Großelterngeneration noch präsent. Und im sowjetischen Pass. Nationalität: Deutsch, stand da – wie eine Brandmarke. „Du konntest perfekt russisch sprechen, dich perfekt integrieren“, erinnert sich Birkle. „Und dann schauen sie in deinen Ausweis und sagen: Du bist doch der Deutsche!“

„Wir sind Heimkehrer“

Diskriminierung, Unterdrückung – vor allem von oben, vom Staat. Das ist Waldemar Birkle und seinen Landsleuten damit eingebrannt, eine Erfahrung, vor der sie schließlich fliehen. Flucht? Flüchtlinge? Quasi automatisch lenkt er das Gespräch am Pforzheimer Wahlkampfstand auf das Thema Flüchtlinge. Waldemar Birkle lächelt zwar immer noch, er wird aber deutlich. „Das ist überhaupt der größte Irrtum“, sagt er. „Dass wir mit Flüchtlingen verglichen werden.“ Denn: „Wir sind keine Flüchtlinge, wir sind Heimkehrer.“

54,23 Prozent. Das ist die Zahl, das Ergebnis dieses vermeintlichen Irrtums. 54 Prozent bekommt die AfD bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr im Wahlbezirk 708, Pforzheim-Haidachschule. Auf den Haidach, den „Russenhügel“, auf „Klein-Moskau“, wie manche sagen, kommt auch Waldemar Birkle, als er 1990, mit 17 Jahren, ganz alleine seine Koffer packt und nach Deutschland zieht.

Nur eine Tante kümmert sich ein wenige um ihn, kein Flüchtlingshelfer, keine staatliche Stelle, kein „Wir schaffen das“.

Aussiedler wollen keine Flüchtlinge sein, dennoch kommen all die Erinnerungen wieder hoch, wenn die Medien voller Flüchtlingsgeschichten sind. Ein „wir“ taucht da in vielen Sätzen auf, und ein „die“. „Die“ sind dann die Flüchtlinge aus dem Jahr 2015. Waldemar Birkle formuliert es so: „Wir haben damals kein Geld bekommen von irgendeiner staatlichen Stelle, und heute hilft man Menschen, die keine Beziehung zu Deutschland haben.“

Birkle und seine Mit-Aussiedler hatten eine Beziehung zu Deutschland, in der Sowjetunion waren sie doch immer nur „die Deutschen“. Und hier? „Hier waren wir plötzlich die Russen“, erklärt Birkle die Kränkung, die seine Landsleute nicht verstehen. Siehe: „Russenhügel“ und „Klein-Moskau“. Dennoch lief es wirtschaftlich, ebenso wie Birkle haben die Aussiedler schnell Arbeit gefunden. Birkle hat eine Lehre zum Zimmermann gemacht, arbeitet heute in der Kunststoffbranche, wo er die Produkte seines Arbeitgebers nach Russland, Polen und die Schweiz verkauft.

2013 wählt Birkle erstmals AfD

Für Politik war da keine Zeit. Und Helmut Kohl, der Übervater aller Russlanddeutschen, würde es schon richten. „Ich habe aber auch Gerhard Schröder gewählt“, sagt er. Und irgendwann fällt im Gespräch der Name Lafontaine. Der damalige SPD-Chef ist so etwas wie das Synonym dafür, dass die Integration eben nicht gelungen ist, sich die Russlanddeutschen seit Kohl immer mehr von der Mitte entfremden. „100 000 Aussiedler werden jedes Jahr direkt in die Arbeitslosigkeit geholt – und belasten die Sozialkassen“, sagt Oskar Lafontaine 1996. „Der Saal tobt“, berichtet der „Spiegel“ aus der Freiburger Stadthalle.

2013, bei der Bundestagswahl, wählt Birkle dann zum ersten Mal AfD. Denn plötzlich war da wieder eine Partei für das Herz der Russlanddeutschen. Mit einem Familienbild, das deren traditionellen Werten entspricht. Und vor allem mit Forderungen, die der so kritisch beäugten Willkommenskultur widersprechen.

„Wir sind nicht neidisch auf die Flüchtlinge“, betont Birkle eigens. „Wir wollen nur Rechtsstaatlichkeit, so wie bei uns damals.“ Seitdem ist Waldemar Birkle die Stimme der Russlanddeutschen in der AfD, wirbt auf dem Haidach um jede Stimme. Genauso wie in der Fußgängerzone. Seine Freundlichkeit verliert er nie, dennoch wird er bestimmt und direkt. Ohne lange nachdenken zu müssen, weist er alle Kritik ab. Warum die AfD so zerstritten ist, sich im Landtag gleich in zwei Fraktionen aufteilt?

„Wir sind keine Berufspolitiker, wir sind alle Anfänger – daraus machen wir kein Geheimnis.“ Warum ausgerechnet die Spitzenkandidatin ein völlig anderes Familienmodell lebt? „Das zeigt, dass wir keine homophobe Partei sind.“ Warum es in der AfD so viele widersprüchliche Positionen gibt, zum Teil auch rassistische? „Wir haben eine sehr breite Linie, wir richten uns an den Bedürfnissen des Volkes aus.“

Einen Listenplatz hat Waldemar Birkle nicht, dass er das Direktmandat holt, gilt als unwahrscheinlich. Dennoch, das Phänomen AfD in Pforzheim bleibt.

Zur Person Waldemar Birkle (AfD)

Vor 44 Jahren wurde Waldemar Birkle in Uralsk (Kasachstan) geboren. Mit 17 wanderte er nach Deutschland aus und wohnt seitdem in Pforzheim. Nach dem Wehrdienst bei der Bundeswehr in Nagold und einer Lehre als Zimmermann arbeitet er seit 1995 als Vertriebsbeauftragter in der Kunststoffbranche. Birkle ist verheiratet und hat drei Kinder.

Seit 2013 ist Waldemar Birkle Mitglied der AfD. Davor hat er sich politisch nicht engagiert. Seit 2014 sitzt er für seine Partei im Pforzheimer Stadtrat. Er ist Initiator der bundesweiten „Interessengemeinschaft der Russlanddeutschen in der AfD“, die es seit August gibt.