Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Martin Schulz surft auf einer Welle der Begeisterung. Erstmals muss die Kanzlerin um ihre Macht bangen. Sie ist nicht schuldlos daran, meint StZ-Autor Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Demokratie und Demoskopie sind zweierlei. Wenn sie identisch wären, wenn die in Umfragen gespiegelten Stimmungen verlässlich Wählervoten vorhersagen würden, dann müsste sich Angela Merkel einen anderen Job suchen. Die meisten hätten lieber Martin Schulz als Kanzler. Zumindest sagen das 50 Prozent der 1006 Bürger, die für den aktuellen „Deutschlandtrend“ befragt wurden. 503 Likes, wie das neudeutsch heißt, bedeuten noch keinen Wahlsieg. Mit der Euphorie, von der sich der unerwartete SPD-Kandidat in noch viel weniger erwartete Höhen emporgehoben sieht, haben sich die Verhältnisse zu Beginn des Wahljahres jedoch enorm gewandelt. Erstmals seit zwölf Jahren muss Merkel um ihre Macht bangen.

 

Merkel steht für „Weiter so“ – das ist vielen zu wenig

Das hat viele Gründe. Nicht alle tragen den Namen Schulz. Einige sind auch Merkel selbst anzulasten – zum Beispiel die Unbeirrbarkeit, mit der sie die Kehrseite ihrer humanitären Heldenhaftigkeit in der Flüchtlingskrise auszublenden versuchte: das Staatsversagen, den Kontrollverlust, die Sicherheitsrisiken, den Aufstieg populistischer Nutznießer, die Verstörungen in der eigenen Partei. Dazu kam die uninspirierte, beinahe gequälte Manier, in der sie Deutschland wissen ließ, dass sie ein viertes Mal zur Wahl anzutreten gedenke – als müsste die Nation allein dafür schon dankbar sein. Merkel steht für „Weiter so“. Ein Projekt ist nicht erkennbar.

Zurück zu Schulz. Der Mann wirkt so aufregend wie ein Bahnschaffner, doch im Internet wird er schon als „sexiest man alive“ gehandelt. Diese Hysterie hat viel mit dem Überraschungseffekt seiner Kür, den Sehnsüchten der erfolgsentwöhnten Genossen, dem Überdruss an Merkels notorischer Unaufgeregtheit und einer nach Neuigkeiten süchtigen Medienkultur zu tun. Aber eben auch mit Schulzens Talenten. Er erscheint glaubwürdiger als Gabriel, volkstümlicher als Steinbrück und kämpferischer als Steinmeier. Dazu ist er redegewandter, leutseliger und leidenschaftlicher als Merkel – und nicht weniger uneitel. Erstmals seit Gerhard Schröder ist einem Kandidaten der SPD wieder zuzutrauen, dass er nach der Wahl nicht nur auf dem Beifahrersitz der Macht Platz nehmen darf.

Seehofer hat die Autorität der Kanzlerin schwer beschädigt

Dann wäre da noch Horst Seehofer. Lange sah es so aus, als sei er Merkels gefährlichster Rivale. Der Schulz-Hype verursache bei ihm „überhaupt keinen erhöhten Blutdruck“, versichert der CSU-Chef, tut aber plötzlich so, als habe er Merkel schon immer für die allerbeste Kanzlerin gehalten. Darauf wird wohl auch das „Versöhnungstreffen“ am Sonntag und Montag hinauslaufen. Solches Schmierenkomödiantentum honorieren die Wähler nicht. Es war Seehofers Verdienst, Merkel Kurskorrekturen in der Flüchtlingspolitik abgenötigt zu haben. Er hat seine demütigende Konfrontationspolitik aber überzogen und so die Autorität der Kanzlerin beschädigt.

Wogen der Begeisterung werden dennoch nicht ausreichen, Schulz ins Kanzleramt zu spülen. Am Ende geht es hier nicht um schnelle Antworten bei einer Telefonumfrage, sondern um ein überzeugendes Regierungsprogramm. Noch ist nicht erkennbar, welche Themen Merkels Wähler verlocken sollten, ihr Kreuz lieber bei der SPD zu machen. Gerechtigkeitslyrik hat den Genossen schon 2013 wenig gebracht.

Mit einem Politikstil der gepflegten Langeweile ist diese Wahl nicht zu gewinnen

Merkel selbst wird inzwischen eingesehen haben, wie fahrlässig es wäre, auf die eigene Unersetzlichkeit zu vertrauen. Noch ist es zu früh, um zu erkennen, ob die Sympathien für Schulz wirklich ein Symptom für Wechselfieber sind. Merkels Politikstil der gepflegten Langeweile, den Parteistrategen „asymmetrische Demobilisierung“ nennen, taugt jedenfalls nicht als Rezept gegen einen Konkurrenten, der Machtfantasien weckt. Wenn sie Kanzlerin bleiben will, wird es nicht genügen, Seehofer freundlich zu stimmen. Dieser Wahlkampf wird ihr Ungewöhnliches abverlangen: Sie muss Begeisterung entfachen.