Der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat mit Auftritten in Nürtingen und Esslingen den Schlussspurt um die Gunst der Wähler eröffnet.

Entscheider/Institutionen : Kai Holoch (hol)

Esslingen - Es hat schon spektakulärere Inszenierungen von Politikerauftritten gegeben. Auf dem Esslinger Marktplatz sind am Montagnachmittag keine Videowände aufgebaut, auf denen geschickt komponierte Clips das zahlreich erschienene Publikum auf das Kommende vorbereiten. Auch wartet man in dieser von visuellen und akustischen Reizen überfluteten Zeit vergeblich auf hymnische Klänge, die, nachdem im Vorprogramm die Direktkandidaten aus den umliegenden Wahlkreisen ausführlich zu Wort gekommen sind, das Erscheinen des Hauptakteurs ankündigen würden.

 

Lesen Sie aus unserem Angebot: Olaf Scholz sagt Auftritt in Tübingen ab

Plötzlich ist er dann einfach da. Das weiße Hemd, das er zu seinem Markenzeichen im laufenden Wahlkampf gemacht hat, signalisiert dem Publikum: Hier bin ich, mehr brauche ich nicht, um eure Aufmerksamkeit zu gewinnen. Scholz winkt ein paar Mal etwas scheu ins Publikum und legt dann los. Das Ganze wirkt unprätentiös, ja vielleicht sogar ein bisschen bieder. Scholz erscheint dabei aber auch ziemlich authentisch. Gerade die Konzentration auf Sachfragen und der Verzicht auf persönliche Eitelkeiten sind das, was Olaf Scholz in den Augen seiner Anhänger und Bewunderer weit mehr als sein Mitbewerber und seine Mitbewerberin als zukünftigen Regierungschef qualifiziert. Die Kontrahenten wird er in der kommenden Stunde übrigens mit keinem Wort erwähnen. Die Stimmung unter den Genossen ist jedenfalls bestens – und auch Olaf Scholz scheint seinen Spaß zu haben.

Die CDU durchkreuzt die Pläne von Scholz – aber nur ein wenig

Dabei hatte sich Scholz den Tag ursprünglich sicher etwas anders vorgestellt. Denn den Montag nach dem dritten und aus seiner Sicht erneut überaus erfolgreich verlaufenem TV-Triell hatte der Kanzlerkandidat der SPD zunächst ausschließlich für einen Abstecher in den Südwesten der Republik reserviert. In Tübingen wollte Scholz den Wahlkampf-Tag beginnen, danach in Nürtingen auf Stimmenfang gehen, um schließlich zum krönenden Abschluss auf dem Esslinger Marktplatz aufzutreten.

Doch diese Pläne hat die CDU durchkreuzt und den amtierenden Finanzminister zu einer Sondersitzung des Finanzausschusses geladen, in dem sich Scholz zu den Durchsuchungen in seinem Ministerium im Zusammenhang mit den Geldwäsche-Ermittlungen äußern musste. In Tübingen musste deshalb Andreas Stoch als Scholz-Ersatz einspringen. Doch schon in Nürtingen konnte der SPD-Landesvorsitzende wieder in die Rolle desjenigen schlüpfen, der den „zukünftigen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland“ begrüßen durfte.

Sehr staatsmännisch, sehr routiniert

Natürlich ist auch die erste halbe Stunde von Olaf Scholz bei seinem Esslinger Auftritt Wahlkampfroutine. In einer Tour de Force reiht er - sehr staatsmännisch, aber auch sehr routiniert - all jene Themen aneinander, die viele Bürgerinnen und Bürger interessieren und für die er zahlreiche Verbesserungen verspricht, wenn, erstens, die Gesellschaft solidarisch zusammenhält und die Menschen mit Respekt miteinander umgehen und, zweitens, die Mehrheit der Bürger seiner SPD am 26. September ihre Stimme geben wird.

Nein, einen Lockdown werde es nicht mehr geben. Eine Steuersenkung für Wohlhabende komme angesichts von 400 Milliarden Euro neuer Schulden wegen der Corona-Krise nicht in Frage. Der Vorschlag der CDU sei „unsolidarisch und völlig aus der Zeit gefallen“. Sehr wohl aber müsse der Mindestlohn ganz zügig auf zwölf Euro erhöht werden, was immerhin, das sei die eigentlich erschreckende Zahl, zehn Millionen Menschen eine Gehaltserhöhung bescheren werde.

100 000 Wohnungen extra pro Jahr

Auch der soziale Wohnungsbau müsse drastisch intensiviert werden – statt aktuell 300 000 Wohnungen pro Jahr, müssten es demnächst 400 000 sein, um Stück für Stück ausreichend Wohnraum schaffen zu können. Schluss solle auch damit sein, dass Kinder in Armut leben müssten. Zudem müsste jede und jeder die Chance auf einen guten Einstieg ins Berufsleben haben. Deshalb müsse die einst von der SPD auf den Weg gebrachte Bafög-Förderung auf neue, zeitgemäße Grundlagen gestellt werden.

Nach dem Hauptvortrag darf der Daimler-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Michael Brecht einen flammenden Appell halten, warum er und die Unterzeichner eines Unterstützerschreibens Olaf Scholz wählen werden. Dann folgt die Fragerunde, die mit einem winzigen Seitenhieb in Richtung seines Hauptkonkurrenten Armin Laschet beginnt: Zwei kleine Mädchen dürfen – weil ausgerechnet am Montag Weltkindertag ist – Fragen an Olaf Scholz stellen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Livestream mit Scholz zum Nachschauen

Die Fragen der beiden Mädchen sind dann auch vergleichsweise harmlos. Die Antworten des Kandidaten wärmen aber die Herzen der Genossinnen und Genossen: „Ja, ich bin ein glücklicher Mensch“, sagt Scholz, jetzt mit sehr weicher Stimme, „und ich glaube fest daran, dass die Welt immer noch ein bisschen besser werden kann. Dafür müssen wir aber alle etwas tun.“