Für Menschen mit Behinderung ist die Briefwahl häufig die einzige Alternative bei der Bundestagswahl. In Stuttgart sind bei weitem nicht alle Wahllokale barrierefrei.

Stuttgart - In allen Wahlzetteln für die Bundestagswahl ist oben rechts ein Loch eingestanzt. Für Maria Seidler ist das Loch eine große Orientierungshilfe. „Daran kann ich erkennen, ob der Wahlzettel richtig liegt“, sagt sie. Maria Seidler ist stark sehbehindert und benötigt, so wie ihr blinder Lebensgefährte auch, eine Wahlschablone in Braille-Schrift, um ihr Kreuz auf dem Stimmzettel an der richtigen Stelle zu setzen. Diese legt sie einfach auf den Wahlschein. „Wenn ich die Ausstanzung an der oberen rechten Ecke ertaste weiß ich, dass alles korrekt liegt,“ erklärt Maria Seidler. Sie hat sich entschieden, per Briefwahl zu wählen. „Das ist einfacher.“ Informiert hat sich die Stuttgarterin vorab mit Hilfe von Audio-Dateien, die von den Parteien zur Verfügung gestellt werden.

 

Genau wie Maria Seidler findet es auch Sebastian Fuchs bequemer, den Stimmzettel zu Hause auszufüllen. Auch er kann kaum noch etwas sehen, außerdem ist er stark gehbehindert. „Ich kenne niemanden von meinen Freunden, der persönlich im Wahllokal vor Ort sein Kreuz setzt“, sagt Fuchs. Einige Wahllokale seien schlichtweg nicht barrierefrei. Auch wenn viele Menschen vor Ort seien, sei es für Rollstuhlfahrer nicht einfach, durch zu kommen.

Wahllokale müssen nicht barrierefrei sein

Der Amtsleiter der Statistischen Amts, Thomas Schwarz, kann nicht sagen, wie viele der Stuttgarter Wahllokale barrierefrei sind. „Den Wahlbenachrichtigungen ist zu entnehmen, ob das Wahllokal barrierefrei ist oder nicht“, sagt er. Ein Wahllokal müsse nicht barrierefrei sein. „Dazu wäre der Aufwand zu groß“, erklärt Schwarz. Die in den Wahllokalen anwesenden Wahlhelfer würden den körperlich eingeschränkten Menschen zur Seite stehen, wenn es Schwierigkeiten gibt. Außerdem seien die Wahlvorstände dazu befugt, Hilfestellungen beim Ausfüllen des Stimmzettels zu geben. „Wenn ein Bürger mit zwei gebrochenen Armen ins Wahllokal kommt, dann gibt es auch für ihn eine Lösung“, sagt Schwarz.

Dass für alle Menschen mit Behinderung eine Lösung gefunden wird, ist für die Behindertenbeauftragte der Stadt Stuttgart, Ursula Marx, sehr wichtig: „Jeder soll die Möglichkeit haben zu wählen“, sagt sie. Grundsätzlich sind alle deutschen Staatsbürger über 18 Jahren zur Wahl zugelassen – sofern sie keinen Vollbetreuer haben. Eine Vollbetreuung wird auch häufig bei Demenz-Kranken Menschen eingesetzt. Diese werde dann nicht mehr zur Wahl zugelassen.

Bei den Wahlen zum Heimbeirat wird geübt

Für die meisten geistig-behinderte Bewohner der Lebenshilfe Stuttgart sind Wahlen immer etwas ganz Besonderes: „Sie zeigen großes Interesse daran und freuen sich darüber, dass sie mitbestimmen dürfen,“ sagt Eva Schackmann von der Lebenshilfe. Um den Bewohnern die Relevanz von Wahlen zu vermitteln, werden im Vorfeld Heimbeiräte gewählt. „Das läuft dann ungefähr so wie bei einer Bundestagswahl auch. So bereiten wir unsere Bewohner darauf vor“, berichtet Eva Schackmann.

Ein neues Projekt bei der Lebenshilfe wurde in diesem Jahr von Tobias Giereth geschaffen. Er kümmert sich um 13 geistig-behinderte Menschen in einem Wohnhaus der Lebenshilfe und bot ihnen an, bei einem Informationsabend über die Bundestagswahl zu sprechen. „Zwölf Bewohner haben sich dafür interessiert und so wurde schließlich ein mehrtägiges Projekt draus“, berichtet Giereth. Die Gruppe habe sich immer wieder getroffen. „Ich habe dabei so gut wie möglich versucht, ihnen die verschiedenen Parteien und Abgeordneten näher zu bringen“, sagt Giereth. Seiner Meinung nach sind die Wahlzettel nicht behinderten-freundlich. „Am besten wäre es, wenn die Gesichter der Politiker mit drauf gedruckt werden“, schlägt er vor. Die Gesichtserkennung sei bei seinen Bewohnern sehr ausgeprägt, aber nur die Namen seien schwierig zu merken.

Hohe Beteiligung von Menschen mit Behinderung

Zwar fährt er nicht direkt mit ins Wahllokal, bei dem Ausfüllen der Stimmzettel bietet er jedoch seine Hilfe an. „Ich habe die Bilder parat und so vereinfache ich ihnen die Stimmabgabe“, sagt er. Der Mitarbeiter der Lebenshilfe geht von einer hohen Wahlbeteiligung zumindest bei seinen Bewohnern aus. „Ich glaube nicht, dass sich jemand die Chance entgehen lassen wird, mitzubestimmen“, sagt Giereth.