Die meisten Strafgefangenen dürfen wählen. Sie müssen sogar bei der Ausübung ihres Wahlrechts unterstützt werden. So weit, dass im Gefängnis zeitweilig ein Wahllokal eingerichtet wird, geht die Fürsorge aber nicht – obwohl die Wahlordnung das ausdrücklich vorsieht.

Stuttgart - Darf auch ein Strafgefangener bei der Bundestagswahl seine Stimme abgeben? Warum nicht? Die Frage ist: Wie geht das? Darüber musste sich nach der Wahl von 2009 sogar das Bundesverfassungsgericht ein Urteil bilden. Anlass war ein Fall in Bruchsal. Geändert hat sich seither – nichts. Experten kritisieren das.

 

Tatsächlich können Strafgefangene per Gerichtsbeschluss auch vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen werden. Das ist seit 25 Jahren nur in knapp 80 Fällen passiert, fast immer, wenn der Verurteilte wegen Hoch- oder Landesverrats einsaß. Das passive Wahlrecht verliert für fünf Jahre, wer zu mindestens einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt worden ist. Sonst sind Gefangene laut Strafvollzugsgesetz bei der Ausübung ihres Wahlrechts sogar zu unterstützen.

Die Bundeswahlordnung sieht ausdrücklich die Einrichtung beweglicher Wahlvorstände vor: „Für die Stimmabgabe in kleineren Krankenhäusern, kleineren Alten- und Pflegeheimen, Klöstern, sozialtherapeutischen Anstalten und Justizvollzugsanstalten sollen bei entsprechendem Bedürfnis und soweit möglich bewegliche Wahlvorstände gebildet werden“, heißt es im Paragrafen 8. Für einige Stunden würde in diesem Fall eine ambulante Wahlkabine eingerichtet.

Ein Bedürfnis wird nicht festgestellt

Der Haken daran ist: Das wird nicht gemacht, weil kein Bedürfnis festgestellt wird. Die Standortgemeinde müsste das tun. Die Kommunen verweisen darauf, dass Strafgefangene per Brief wählen können. Thomas Mayer-Falk hat es vor vier Jahren darauf ankommen lassen. Der für allerlei Wortmeldungen bekannte Gefangenenaktivist saß in der Justizvollzugsanstalt in Bruchsal seine Haftstrafe wegen eines Banküberfalls mit Geiselnahme ab. Nach der Bundestagswahl 2009 monierte er, dass er keine Gelegenheit gehabt habe, bei einem beweglichen Wahlvorstand seine Stimme abzugeben. Seine Wahlanfechtung wurde zurück gewiesen, seine Klage beim Verfassungsgericht später auch.

Im Bruchsaler Gefängnis säßen mehrere hundert Wähler, argumentierte Meyer-Falk. Problemlos könne dort etwa von 14 bis 16 Uhr ein Wahllokal eingerichtet werden. Tatsächlich seien die Gefangenen aber in die Briefwahl abgedrängt worden.

Die Karlsruher Richter wiesen die Beanstandung aber ab. Um den Bedarf für ein mobiles Wahllokal im Gefängnis festzustellen, sei nicht allein die Zahl der potenziellen Wähler maßgebend. Vielmehr zähle, ob sie eine Chance hatten, an der Wahl teilzunehmen. So habe das Verfassungsgericht damals entschieden, erinnert sich Wolfgang Raue, der Leiter des Bruchsaler Rechtsamtes. Wenn Briefwahl möglich sei, sei dem Anspruch Genüge getan.

Eine Zensur erfolgt nicht

Allerdings müssen einige Standards erfüllt sein. Damit dies bis zum 22. September in Ordnung geht, hat das Justizministerium im Juli in einem neunseitigen Schreiben an die „Damen und Herren Leiterinnen und Leiter der Justizvollzugsanstalten und Jugendarrestzellen“ dargelegt, worauf sie zu achten haben. Bei Strafgefangenen wird es schnell unübersichtlich.

Die erste Hürde ist, ins Wählerverzeichnis eingetragen zu sein. Wer eine kurze Haftstrafe verbüßt, ist oft noch an seinem Wohnort gemeldet – und dort auch ins Wählerverzeichnis eingetragen. Wer Hafturlaub oder Freigang hat, kann ins Wahllokal gehen. Wer keine Wohnung hat, muss sicher stellen, dass er an der Standortgemeinde der Anstalt eingetragen wird. Darauf mussten die Anstalten ihre Bewohner rechtzeitig hinweisen.

Und mehr: sie sollen den Insassen „bei der Eintragung in das Wählerverzeichnis und bei der Beschaffung der Wahlunterlagen (Wahlschein, Briefwahlunterlagen) behilflich“ sein. Konkret kann das bedeuten, dass die Briefmarke für die Post, mit der die Briefwahlunterlagen beantragt werden, von der Anstalt kommt. Wichtig: „Bei Verwendung des amtlichen, mit dem Aufdruck der Anschrift des Kreiswahlleiters oder einer Gemeinde versehenen Briefumschlages erfolgt keine Briefzensur.“

Wie ist es für Sicherungsverwahrte?

Dieser bürokratische Vorlauf beeindruckt Jan Oelbermann nicht. Er ist Strafverteidiger, hat über das Thema Wahlrecht für Gefangene promoviert und Meyer-Falk vor dem Verfassungsgericht vertreten. Man dürfe den Grundsatz, dass Wahlen unter anderem gleich, frei und geheim durchzuführen sind, nicht auf den „Zählwert einer Stimme“ reduzieren, sagt der Jurist. So habe auch „der Akt der Stimmabgabe bei allen möglichst formal gleich zu erfolgen“. Das sei aber im Gefängnis „sehr anders als bei in Freiheit Lebenden“. Dort könne man „kaum geheim wählen“. Jeder bekomme mit, ob man wählt oder nicht. „Auch dieser Umstand unterliegt jedoch dem Wahlgeheimnis.“ Diese Unterschiede mache das Gesetz nicht. Wenn man es für Inhaftierte anders wolle, „dann müsste eben das Gesetz geändert werden.“

Danach sieht es nicht aus, und die Wahlordnung bleibt wohl wie sie ist, auch wenn ihre Maßgaben nie umgesetzt werden. Es sei denn, es kommt erneut zu einer Prüfung. Thomas Meyer-Falk hat seine Haftstrafe verbüßt. Er sitzt jetzt in Sicherungsverwahrung in Freiburg. Dafür gelten in anderem Rahmen die gleichen Vorschriften.