Sie wollen nach Berlin ins Parlament: Die zwölf aussichtsreichsten Bewerber in Stuttgart stellen wir in unserer Serie vor. Heute: Cem Özdemir, der mit der Familie schon in der Hauptstadt wohnt.

Stuttgart - An Cem Özdemir kommt man nicht so einfach vorbei. Nicht in dieser Straße, in der die Helfer des Grünen-Kandidaten ein Ankündigungsplakat zentral postiert haben. „Cem Özdemir ist hier“, verkündet es. Da die Konkurrenz ätzt, Özdemir sei fast nie in Stuttgart, ist sogar so ein Veranstaltungshinweis wie ein politisches Statement: „Seht alle her: Er ist doch da.“ Aber tatsächlich muss Özdemir oft weg sein. 90 Städte haben der 51-jährige Bundesvorsitzende der Grünen und sein weibliches Pendant Katrin Göring-Eckardt auf ihrem Fahrplan, insgesamt 27 000 Kilometer in sechs Wochen.

 

Wenn er da ist, dann nicht zu knapp. Wie an diesem Tag, einem Mittwoch. Er war schon im Zentrum. Nun, mittags, ist er am Marienplatz, der in der prallen Sonne liegt. Hinter einer Hausecke lugt ein Polizeiauto hervor. Mit etwas Verspätung kommt Özdemir in Jeans und hellem Hemd mit leicht hochgekrempelten Ärmeln vom Mittagsimbiss. Hier ein Schwätzchen mit einem Türkischstämmigen, dort eine Fotoaufnahme mit drei Tagesmüttern, die ihn für ihre missliche berufliche Lage sensibilisieren. Und natürlich verteilt er Flyer. Ein Passant wehrt ab. „Oder doch“, sagt er dann, und greift zu.

Özdemir: locker, jovial und routiniert

Nach einer Dreiviertelstunde mit wenigen Passanten verlässt Özdemir den Platz; gefolgt von zivil gekleideten Beamten mit Knopf im Ohr. Sie begleiten ihn in der Öffentlichkeit, seit er die Armenien-Resolution des Bundestags intiierte und sich den Ärger des türkischen Präsidenten zuzog.

Später pausiert Özdemir im Stuttgarter Westen in einem Straßencafé, da nähert sich eine deutlich ältere Passantin. „Herr Özdemir, Sie hier? Jetzt sehe ich Sie mal leibhaftig.“ Özdemir reagiert wie meist: locker und jovial, aber auch routiniert. Er ist bekannt aus Funk und Fernsehen. Emotionen löst er sicherlich immer noch aus. Aber Polarisierung und Szenen wie 2009, im ersten Wahlkampf in diesem Wahlkreis, gibt es kaum.

Damals ließ der CDU-Rivale Stefan Kaufmann ihn in Kinos mit einem Werbespot veralbern. Darin werden der Zeichentrickfigur mit Özdemirs Anmutung die langen, schrägen Koteletten gestutzt. Mit einer bedrohlichen Schere. Das Opfer warf Kaufmann damals unfaires Verhalten vor. Vergleichbares, sagt Özdemir, gebe es diesmal nicht. Die allgemeine Verrohung finde heute im Internet statt. Die Koteletten sind auch weg. „Aber nicht wegen damals“, sagt der Vegetarier.

Am Abend ist „Cem-Session“ im Bürgerzentrum West. Er lässt sich von den Besuchern befragen und verpackt in die Antworten geschickt seine Botschaften. Er mittendrin, um ihn herum mehr als 500 Zuhörer. Jetzt kommt die Kanzlerin dran, die oft überraschend alte Positionen abräume, durchaus auch bessere beziehe. Das passiere aber häufig zu spät und „handwerklich schlecht“. Wie beim „erst verweigerten, dann überstürzten und teuren Atomausstieg“. Jetzt, da es um die Zukunft der Schlüsselindustrie Automobilbau gehe, dürfe das nicht passieren. Er will im Dialog mit den Automachern Tempo für bessere Luft und Klimaschutz machen. Aber auch dafür sorgen, dass die emissionsfreien Wagen in Stuttgart gebaut werden.

Er will für die blaue Plakette kämpfen

„Wir verstehen uns als Antreiber der Industrie, nicht als ihr Dienstleister wie die FDP“, sagt er der Presse. Ob er für kurzfristige Fahrverbote ist, wenn die Nachrüstung der dreckigen Diesel nicht schnell genug wirkt? „Unser Ziel waren Fahrverbote nie“, weicht er aus. Aber Kaufmann wolle Feinstaub mit dem Abbau von Radwegen und mehr Autospuren reduzieren. Er selbst, beteuert Özdemir, möchte für Stuttgart die blaue Plakette erkämpfen.

Die Besucher im Bürgerzentrum klatschen besonders, weil er Geld des Bundes für Flüchtlinge und ein Welternährungsprogramm einsetzen will, statt es Regierungen zu geben. Und sie applaudieren, als er zum Stichwort Islamismus sagt: „Von Moscheen und Vereinen verlange ich Loyalität mit unserem Grundgesetz, nicht mit der türkischen Verfassung.“ Es ist, auch weil viele Parteifreunde da sind, ein Heimspiel für den „anatolischen Schwaben“ aus Bad Urach, der mit der Familie in Berlin wohnt, in Stuttgart noch eine Wohnung hat. Hier tritt der Ex-Erzieher zum dritten Mal für den Bundestag an. Seit 2013 hat er ein Zweitmandat. Es ihm dank vorderem Listenplatz sicher. Er will aber das Direktmandat. 2013 lag er bei den Erststimmen 14,5 Prozentpunkte hinter Kaufmann, aber zehn Punkte über dem Grünen-Ergebnis. „Diesmal wählt man mich auch mit der Zweitstimme“, sagt er, weil er Spitzenkandidat der Grünen ist. Damit wuchert er. Mit allen Gefahren, weil man ihn auch am Zweitstimmenergebnis misst.