Die Flüchtlingskrise auf dem Mittelmeer ist bisher kein Thema im Wahlkampf. Das macht die SPD nun der Kanzlerin zum Vorwurf. Doch die Rüge birgt Risiken – auch für den Kanzlerkandidaten Schulz, meint der StZ-Autor Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Wo Martin Schulz recht hat, da hat er recht: Die Flüchtlingskrise von 2015 könnte sich demnächst wiederholen. Es wäre zynisch, das zu verhehlen, nur weil gerade Wahlkampf herrscht. Der Vorwurf richtet sich an die urlaubende Kanzlerin. Sie verhielt sich vor ihrer Abreise in die Sommerfrische ähnlich wie vor zwei Jahren: Die Tragödie auf dem Mittelmeer war ihr kaum ein Halbsatz wert. Angela Merkel hat die größte Herausforderung im Wahlkampf bisher weitgehend verschwiegen. Wer eine Antwort darauf sucht, muss im Wahlprogramm der Union bis Seite 64 blättern und findet auch dort nur wenige Sätze. Derweil sind vor den Küsten Europas 2017 mehr Menschen ertrunken als je zuvor. Italien ruft den Notstand aus. Österreich will den Brenner mit Panzern abriegeln lassen. Und was tun wir?

 

Warum Merkel das Thema am liebsten unterschlagen würde

Warum Merkel das Thema am liebsten ausblenden würde, liegt auf der Hand: Es legt ihre Ohnmacht bloß, die Widersprüchlichkeit ihrer Politik und die Zerstrittenheit der Union. Merkels Willkommensgesten anno 2015 haben ihr eigenes Lager gespalten, ganz Deutschland und darüber hinaus auch Europa. Nichts davon ist behoben, allenfalls verdrängt. Derweil hat Merkel der damaligen Politik längst abgeschworen. Ihr verändertes Handeln und der Wandel ihrer Rhetorik kommen einer Demütigung gleich, einer Kapitulation vor der Stimmung im Land und vor dem Unmut im konservativen Milieu – auch wenn sie sich beharrlich weigert, von Obergrenzen zu reden. Merkel wird als Führerin der westlichen Welt verehrt. Wobei der Ehrlichkeit halber anzumerken wäre, dass sie selbst nie eine solche Rolle reklamiert hat. Im Falle einer Wiederkehr des Massenzustroms von 2015 würde offenkundig, wie wenig sie jener Rolle gewachsen wäre. Sie hat kein Rezept, wie eine Neuauflage der Flüchtlingskrise verhindert werden könnte. Deshalb würde sie das Thema im Wahlkampf gerne unterschlagen.

Beschwörende Sätze reichen nicht

Wenn es nach Angela Merkel geht, beginnt die nächste Flüchtlingskrise frühestens am 25. September, dem Tag nach der Bundestagswahl. Dabei hat sie längst begonnen. Das ist auf dem Mittelmeer zu besichtigen. „Eine Situation wie im Jahre 2015 soll und darf sich nicht wiederholen“, wiederholt die Kanzlerin unablässig. Solche beschwörenden Sätze allein werden jedoch nicht ausreichen, um zu verhindern, dass die Verhältnisse an den Grenzen nochmals außer Kontrolle geraten. Die aktuelle Flüchtlingstragödie könnte durchaus einen ähnlichen Verlauf nehmen wie vor zwei Jahren – mit drei Unterschieden: Jetzt befindet sich nicht Griechenland, sondern Italien im Brennpunkt. Es kommen statt Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien und dem Irak vor allem Armutsflüchtlinge aus Afrika. Und Merkel könnte sich nicht noch einmal als Madonna der Migranten aufführen. Dafür fehlt ihr der politische Rückhalt. Die Zweifel an ihrem „Wir schaffen das“ sind zu groß.

Es geht hier nicht um theoretische Erwägungen, sondern um reale Risiken. Deshalb wäre es ratsam, das im Wahlkampf nicht beharrlich zu umgehen. So richtig der Hinweis des SPD-Kanzlerkandidaten Schulz auf diesen Missstand ist, auf den Zynismus des Totschweigens, so bedenklich sind die Kollateralschäden. Erstens könnte die Attacke auf Merkel wie eine Wiederbelebung populistischer Phrasendrescher wirken, denen zuletzt die Luft ausgegangen war. Zweitens offenbart sie die eigene Hilflosigkeit. Auch Schulz hat kein praktikables Konzept, um die Flüchtlingskrise einzudämmen. Letztlich entlarvt er sich selbst: Bis jetzt hat er Merkels Politik der offenen Grenzen im Grundsatz nie hinterfragt. Zudem war es die SPD, die restriktiveren Einwanderungsregeln im Wege stand.

Schulz spielt mit dem Feuer. Er könnte sich daran die Finger verbrennen. Merkel hingegen hat bisher den Eindruck hinterlassen, ihr Hosenanzug sei aus Asbest.