In 50 Tagen ist Wahl. Wer geht da überhaupt noch hin? Politik ist vielen zuwider. So zu denken, ist geradezu modern geworden. Doch wer sich der Stimme enthält, darf sich nicht beklagen, wenn über seinen Kopf hinweg regiert wird.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Kein Anschluss unter dieser Nummer,“ tönt es aus dem Telefon. Die „Partei der Nichtwähler“ hat sich offenbar aufgelöst. Ihr Büro ist nicht mehr besetzt. 2011 hatte sich diese Plattform für Politikfrustrierte formiert. Bei der Bundestagswahl 2013 stand sie ganz im Widerspruch zum eigenen Namen mit auf dem Stimmzettel. 11 349 zum Wählen bekehrte Nichtwähler machten dort ihr Kreuz. Das waren 0,03 Prozent der insgesamt abgegebenen Stimmen.

 

Jetzt ist es ganz vorbei mit dieser Art des politisch korrekten Protests gegen den etablierten Politbetrieb. Besinnen sich die organisierten Nichtwähler wieder aufs Nichtwählen? Oder kommt das Bekenntnis zur Wahlabstinenz (im Zweifelsfall durch demonstrative Stimmabgabe) wieder aus der Mode?

Die Demokratie hat einen langwierigen Verfallsprozess hinter sich. Die Zeiten, als das Wahlvolk den Gang zur Urne nahezu komplett als staatsbürgerliche Pflicht begriffen hatte, sind lange vorbei. Von 1957 an, als sich die Bundesrepublik etabliert hatte, der Nachkriegsfrust verpufft und das Wirtschaftswunder für jeden zu spüren war, schritten jeweils weit mehr als 80 Prozent der Bürger zur Wahlkabine, wenn ein neuer Bundestag zu besetzen war. Als die SPD-Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt kandidierten, waren es sogar mehr als 90 Prozent. Unter dem Ewigkanzler Helmut Kohl flaute die Wahlbegeisterung langsam ab. Als er 1998 abgewählt wurde, verzeichnete die Statistik noch einmal eine Beteiligungsquote von 82,2 Prozent. Solche Werte wurden seitdem nicht mehr erreicht. 2009 haben 70,8 Prozent der Bürger gewählt, bei der Bundestagswahl 2013 waren es 71,5.

Das Königsrecht jeder Demokratie

Wenn es nicht gerade um die Macht im Staate geht, sondern „nur“ um Bürgermeisterposten, Sitze im Gemeinderat, Landesregierungen oder Mandate im fernen Europa-Parlament, ist die Wahlmüdigkeit noch ausgeprägter. Da verweigert sich bisweilen mehr als die Hälfte des Wahlvolks seiner vornehmsten Aufgabe. Die Demokratie ist nicht mehr überall mehrheitsfähig. Der Souverän, zu dem das Grundgesetz die Bürger erkoren hat, verhält sich vielfach unsouverän – indem es sich der zugedachten Rolle entzieht. Und das ist keine deutsche Eigenheit. Der gegenwärtige US-Präsident Donald Trump wurde beispielsweise nur von einer Minderheit für regierungswürdig befunden. Nur 58,9 Prozent der Wahlberechtigten haben ein Votum abgegeben. Die absolute Mehrheit davon entspricht nicht einmal einem Drittel des Stimmvolks. Selbst bei den Schicksalswahlen zuletzt in Frankreich bewegte sich die Wahlbegeisterung der Citoyens auf dem niedrigsten Niveau, seit es die Fünfte Republik gibt.

Dabei geht es hier um das Königsrecht jeder Demokratie – eine Errungenschaft, um die unsere Vorfahren uns beneidet hätten. Manche von ihnen mussten dafür ihr Leben lassen. Vor 100 Jahren durfte die Hälfte der Deutschen noch gar nicht wählen: alle weiblichen Geschlechts. Das Frauenwahlrecht wurde erst nach der Revolution von 1918 eingeführt. Zuvor galten für die meisten deutschen Männer, die immerhin wahlberechtigt waren, ausgesprochen selektive Wahlregeln: In Preußen, wo zwei Drittel der deutschen Reichsbürger lebten, wurden die Wahlberechtigten nach ihrer Steuerkraft sortiert. Die Stimmen der Vermögenden hatten mehr Gewicht. Wahlen erzeugten eine soziale Unwucht.

Heute ist es umgekehrt: die Unwucht entsteht durch die Nichtwähler. Dieser Typus ist inzwischen gut erforscht. Man weiß zum Beispiel: Sie kommen nicht überall in gleicher Häufigkeit vor. Politikwissenschaftler nennen das eine „soziale Spaltung der Wahlbeteiligung“. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung bringt es auf den Punkt: „Der typische Nichtwähler kommt aus den sozial schwächeren Milieus“, heißt es dort. „Je prekärer das soziale Umfeld, desto weniger Menschen gehen zur Wahl.“

Die „sozial ungleiche Wahlbeteiligung“

Die Wahlbeteiligung zwischen Villenvierteln und Hartz-IV-Quartieren klafft um bis zu 40 Prozentpunkte auseinander. Besonders weit öffnet sich die Kluft zwischen dem politisch aktiven und dem desinteressierten Teil des Publikums bei den Jungwählern: Da wählt die Mehrheit derer mit Hauptschulabschluss gar nicht. Stichproben unter Erstwählern zeigten, dass 80 Prozent von ihnen Abitur haben. „Die sozial schwachen Schichten verabschieden sich aus der politischen Teilhabe“, so der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags in einer Analyse von 2015. Die „sozial ungleiche Wahlbeteiligung“ verschärfe die Ungleichheit, sagt der Politologe Armin Schäfer von der Universität Osnabrück. Er erklärt das so: „Politische Entscheidungen folgen jenen, die wählen. Je ungleicher die politische Beteiligung, desto unwahrscheinlicher sind Reformen, um die soziale Ungleichheit abzumildern.“

Nichtwähler sind aber keine homogene Gruppe. Sie haben unterschiedliche Gründe, warum sie gegen Stimmzettel allergisch sind – oder gegen jene, deren Namen draufstehen. Manchen ist die Lust am Wählen vergangen, weil sie nicht mehr begreifen, wo die Unterschiede zwischen den Parteien liegen. Andere wollen „der Politik“ schlichtweg einen Denkzettel verpassen, indem sie ihre Kandidaten mit Nichtbeachtung bestrafen. Andere haben sich der staatlichen Sphäre insgesamt entfremdet, weil sie sich von keiner etablierten Partei in ausreichendem Maße beachtet fühlen.

„Wähler im Wartestand“

Nur eine Minderheit der Nichtwähler entscheide sich bewusst zu dauerhafter Wahlabstinenz, hat der Wahlforscher Manfred Güllner, Chef der Umfragefirma Forsa, für die Friedrich-Ebert-Stiftung herausgefunden. Die meisten seien „Wähler im Wartestand“. Eine große Mehrheit der bekennenden Nichtwähler sagt sogar, Wahlen seien „ein hohes Gut“. Mit der Demokratie in Deutschland sind sie grundsätzlich ganz zufrieden. Manfred Güllner bezeichnet diese Leute als „Wähler auf Urlaub“.

Vor vier Jahren gab es noch eine andere Sorte von Nichtwählern: Politikverächter mit intellektueller Attitüde. Eine Reihe prominenter und halbwegs prominenter Zeitgenossen, die öffentlich zur Stimmverweigerung aufriefen. Der „Spiegel“ nannte sie „Abstinenzler aus den besseren Kreisen“. Der Populärphilosoph Richard David Precht („Erkenne die Welt“) zum Beispiel propagierte Enthaltsamkeit am Wahlsonntag, weil er der Politik einen „kollektiven Verlust der Utopiefähigkeit“ anlastete. Sein Kollege Peter Sloterdijk klagte, unsere Demokratie sei unter Angela Merkels Regiment zu einer „Lethargokratie“ verkommen – was wohl heißen sollte, sie sei zu einfallsarm und unproduktiv. Der Zeithistoriker Arnulf Baring mokierte sich, wie „eindimensional und verdruckst“ politische Debatten geworden seien.

Der Trend hat sich wieder gedreht

Merkels Wahlkampftaktik der asymmetrischen Demobilisierung, die darauf abzielt, Anhänger der politischen Konkurrenz einzulullen, wirkte wie ein Narkotikum auf das Wahlvolk. Dazu vergällte der Frust über eine Euro-Rettungspolitik, die als „alternativlos“ verkauft wurde, aber unabsehbare finanzielle Risiken birgt, vielen die Lust am Wählen. Mit der zunehmenden Komplexität von Politik in einem globalen Koordinatensystem wird die Wahlentscheidung auch nicht leichter. Die Politik erscheint vielen wie ein hermetisches Geschäft, das sich mit nervtötender Langsamkeit und nach schwer durchschaubaren Gesetzmäßigkeiten vollzieht.

Viele Medien präsentieren sie zudem wie eine Daily Soap mit langweiligen, wenn nicht gar vertrottelten Hauptdarstellern. Demokratische Abläufe fügen sich nicht den Schablonen einer auf Personalitygeschichten und schnellen Wechsel fokussierten Unterhaltungsindustrie.

„Die Zeiten sind politischer geworden“

Ungeachtet solcher strukturellen Hemmnisse hat sich der Trend zur politischen Passivität in den vergangenen Monaten wieder gedreht. Bei den jüngsten Landtagswahlen waren durchweg mehr Stimmzettel in den Urnen als bei früheren Gelegenheiten. Das hat viele Gründe: etwa das erweiterte Parteienspektrum. Die AfD hat politferne Kreise zum Wählen animiert. Die Hysterie über einen unerwarteten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz mobilisierte wahlmüde Sozialdemokraten. Dessen kurzfristige Umfrageerfolge trieben wiederum vergrätzte Konservative hinterm Ofen vor, die partout nicht in einer linksregierten Republik leben möchten. „Die Zeiten sind politischer geworden“, sagt der Mainzer Politologe Thorsten Faas. Phänomene wie der zum Präsidenten aufgestiegene Politikverächter Donald Trump machten den Leuten klar, „dass es nicht egal ist, wie eine Wahl ausgeht“. Trumps Urahn im wichtigsten Amt der USA, Thomas Jefferson, mahnte einst: „Schlechte Kandidaten werden gewählt von guten Bürgern, die nicht zur Wahl gehen.“

Wählen ist so einfach

Die Wahlbeteiligung ist mehr als nur eine statistische Kennziffer. Wenn sie schrumpft, dann schwindet die Legitimation von Regierungen, Parlamenten, Magistraten, Gemeinderäten und Bürgermeistern. Auch wer nicht wählt, trägt Verantwortung: etwa dafür, dass dann Leute das Sagen haben, die sich eventuell noch nicht einmal auf eine Mehrheit berufen können – Leute, auf deren politische Agenda Nichtwähler keinen Einfluss haben. Wer sich der Wahl entzieht, darf sich nicht beschweren, wenn über seinen Kopf hinweg regiert wird. Demokratie lebt vom Mitmachen. Das ist keine Zumutung, sondern ein Privileg – was vor allem jene zu schätzen wissen, denen es versagt bleibt.

Wer zuhause bleibt, hat die Demokratie nicht verdient

Dabei ist Wählen ist so einfach: Es genügt, am 24. September einen kleinen Spaziergang zu unternehmen und dann zwei Kreuze zu malen. Wem der Ausflug ins Wahllokal noch zuwider ist, der kann sich den Stimmzettel auch nach Hause schicken lassen und sein Votum bequem per Briefwahl abgeben. Und wer vorher keine Lust hat, zur Orientierung hunderte von Seiten in den Wahlprogrammen der Parteien durchzublättern, sich auf Marktplätzen die Beine in den Bauch zu stehen oder Talkshows zu schauen, kann sich durch den lebenspraktisch orientierten Fragekatalog eines Wahl-o-maten klicken, um zu einem Entschluss zu kommen.

An Alternativen mangelt es nicht: 48 Parteien stehen diesmal auf dem Stimmzettel. Darunter gibt es neben den einschlägig bekannten auch welche für Tierschützer und für Christen, gleich drei für Kommunisten und zwei für Rechtsradikale, eine für Humanisten, eine ausdrücklich für Vernünftige, eine für Veganer und sogar eine für Hip-Hopper. Wer da zuhause bleibt, hat die Demokratie nicht verdient.