Herr Sobek, haben Sie gern Latein in der Schule gelernt?
Latein ist wie Schach spielen. Es ist von einer großen Komplexität und gleichzeitig auch von einer großen Klarheit. Das habe ich immer genossen.
Ihre Trilogie, deren ersten Band Sie jüngst veröffentlicht haben, trägt den Titel „Non nobis – über das Bauen in der Zukunft“. Helfen Sie bitte jenen, die kein Latein in der Schule hatten.
Der Titel ist ein verkürztes Zitat aus einer Schrift Ciceros. Vollständig lautet es ‚non nobis solum nati sumus‘ – das heißt: wir sind nicht für uns allein geboren, wir handeln nicht für uns allein. Was wir tun, was wir als Gesellschaft entscheiden, hat Einfluss auf folgende Generationen, auf die Natur. Um unserer Verantwortung gerecht zu werden und um fundierte Aussagen für die Zukunft des Bauschaffens treffen zu können, benötigen wir sauber recherchierte Fakten und eine präzise Darstellung der zwischen diesen Fakten bestehenden Zusammenhänge. Dieses Wissen ist bei vielen nicht vorhanden. Zudem wird teilweise mit unsauberen Zahlen und unklaren Begrifflichkeiten hantiert.
Ihr Buch benennt viele Fakten zum Ressourcen- und Energieverbrauch, zum Abfallaufkommen sowie zu den Emissionen des Bauschaffens. Es zeigt auf, welche große Rolle das Bauwesen für den Klimawandel spielt. Welche Ungenauigkeiten haben Sie aufgedeckt?
Der Anteil des Bauwesens an den weltweiten Treibhausgasemissionen wird gemeinhin mit 38 Prozent beziffert. Diese Zahl stammt von der Internationalen Energieagentur. Auch ich hatte sie in einem wissenschaftlichen Aufsatz ungeprüft übernommen – fing dann aber an zu recherchieren und stellte schnell fest, dass die Zahl nicht stimmen kann.
Sie kommen zu dem Ergebnis, dass der Anteil mehr als 50 Prozent beträgt.
Korrekt. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel. Die Energieeffizienzmaßnahmen im Bauwesen beziehen sich immer nur auf die Nutzungsphase der Bauwerke. Die Frage, wie viel Energie für die Herstellung der Baustoffe, deren Transport und auch für den Rückbau benötigt werden, bleibt bislang außen vor. Auch das neue Gebäudeenergiegesetz ist verfehlt. Anstatt auf 58 Seiten Wärmedämmwerte für einzelne Bauteile aufzulisten, müsste darin lediglich formuliert werden, dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt die Emission treibhausschädlicher Gase bei Herstellung, Betrieb und Rückbau von Bauwerken auf null zu fahren ist.
Kommt die Nachhaltigkeitswende im Bauwesen überhaupt voran?
Ja, aber nicht in der genügenden Breite und nicht mit ausreichend hoher Geschwindigkeit. Sehen sich nur die Hochglanzmagazine mit den Heroen der zeitgenössischen Architektur an. Worte wie Kreislaufwirtschaft, Recycling oder Emissionsminimierung führen diese in der Regel nicht im Munde, das gilt als unsexy, als Sache der Ingenieure. 1992 war ich vermutlich der Erste weltweit, der Vorlesungen über recyclinggerechte Architektur anbot. Wir haben das Aktivhaus entwickelt, das keine klimaschädlichen Emissionen verursacht, doppelt so viel Energie erzeugt, wie es verbraucht, und dessen Bauteile komplett in technische oder biologische Kreisläufe zurückgeführt werden können.
Im zweiten Band der Trilogie soll es um die verbleibenden Handlungskorridore der Menschheit gehen. Was verstehen Sie darunter?
Durch die Klimaerwärmung wird es zu Migrationsbewegungen kommen. Es wird Flucht aufgrund von Hungersnöten, Wassermangel und Hitzewellen geben. Das sind die wesentlichen Korridore, und die Frage wird lauten, wie man für große Flüchtlingsströme eine gebaute Heimat mit Energie- und Wasserversorgung wird schaffen können. Ein weiterer Korridor ergibt sich durch das Klimaschutzgesetz: Um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, dürfen bis 2050 nur noch 290 Milliarden Tonnen CO2 emittiert werden. Die Menschheit emittiert derzeit pro Sekunde 1300 Tonnen in die Atmosphäre. Bleibt das so, ist unser verbleibendes Kontingent in sieben Jahren ausgeschöpft.
Was muss daraus folgen – radikaler Verzicht?
Wir haben unser Glücksempfinden in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr aus Materiellem bezogen. Konsumglück. Wir sollten uns aber besser einer anderen Form von Glück zuwenden. Es gibt viele Dinge, die Menschen genießen können, die ohne Materialaufwand auskommen. Wir müssen die Gesellschaft in diese Richtung drehen. Das ist letztlich unsere einzige Chance. Wir stehen also vor einem revolutionären Paradigmenwechsel.
Was bedeutet das für Architekten? Nehmen wir eine ihrer bevorzugten Bauaufgaben: das Einfamilienhaus, das als die beliebteste Wohnform der Deutschen gilt. Macht man ihnen diese madig, geht ein Aufschrei durchs Land.
Die Liebe zum Einfamilienhaus bestand ja nicht schon in der Urzeit. Sie entstand infolge der Industrialisierung, als auf der Suche nach Grün und sauberer Luft die Idee von Park-Städten aufkam. Grundstücksbesitzer, Bauunternehmer und Finanziers haben diese Zielvorstellung auf dem Markt etabliert.
Sie wohnen auch in einem Einfamilienhaus in Stuttgart, einem emissionsfreien, energieautarken, recyclingfähigen Glaskubus.
Ich wohne darin nicht, weil ich ein überzeugter Einfamilienhaus-Anhänger bin, sondern weil ich ein Experimentalhaus bauen wollte. Heute würde ich das Haus nicht mehr allein stehend bauen, sondern im Verbund – wenn die Baugesetze dies zulassen würden. Das Einfamilienhaus hat drei entscheidende Nachteile: erstens das ungünstige Verhältnis von Volumen und Außenoberfläche. Das erhöht den Aufwand für Heizen und Kühlen. Zweitens den hohen Aufwand für infrastrukturelle Erschließung – man benötigt dadurch wesentlich mehr Geh-, Radweg- und Straßenfläche pro Bewohner. Und, damit verbunden, drittens, befördert das Einfamilienhaus den hohen Versiegelungsgrad der Landschaft.
Wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken: Was, würden Sie sagen, ist Ihre bedeutendste Leistung?
Ich glaube, am wichtigsten ist, dass meine vielen erfolgreichen Schülerinnen und Schüler das fortführen, was ich ihnen in meinem wissenschaftlichen Arbeiten und meinem Bauschaffen vorgelebt habe. Präzision im Denken, Interdisziplinarität als Prinzip, Willen zur Avantgarde, Verantwortung übernehmen für das eigene Tun, Mut zur Gestaltung der Zukunft. Daneben habe ich im Leichtbau die Grenzen vorangetrieben wie vor mir nur Frei Otto. Und ich habe, neben anderem, den Gradientenbeton erfunden, der mit deutlich weniger Material auskommt als herkömmlicher Beton.
Die von Ihnen recherchierten Fakten stimmen alles andere als optimistisch. Wie fällt Ihr Blick in die Zukunft aus?
Die Herausforderung besteht darin, in der Kürze der uns zur Verfügung stehenden Zeit die meisten unserer Lebensformen umzustellen und unsere Werte neu zu definieren. Dafür benötigen wir ein gesamtgesellschaftliches solidarisches Handeln. Warum? Papst Franziskus hat das sehr gut in seiner ersten Enzyklika formuliert: Er nannte die Erde „unser gemeinsames Haus“. Und ich füge hinzu: aus dem keiner ausziehen kann.
Engagement für die gebaute Welt von morgen
Pionier
Werner Sobek, 1953 in Aalen geboren, ist Bauingenieur und Architekt und setzt sich seit Jahrzehnten für nachhaltiges, emissionsfreies Bauen ein. Er ist Professor am Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren der Universität Stuttgart, Initiator des Sonderforschungsbereichs SFB 1244 über „Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen“ und Gründer eines weltweit tätigen Planungsbüros mit mehr als 350 Mitarbeitern, das seinen Hauptsitz in Stuttgart-Degerloch hat.
Ehrung
Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande an Werner Sobek findet am 17. Mai im ILEK (Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren) im Pfaffenwaldring 14 in Stuttgart-Vaihingen statt. Es sprechen unter anderen Theresia Bauer, Landesministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst; Wolfgang Riehle, Ehrenpräsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, Stephan Engelsmann, Präsident der Ingenieurkammer Baden-Württemberg und Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
Trilogie
Der Titel des ersten Bands der Trilogie „Non nobis – über das Bauen in der Zukunft“ lautet „Ausgehen muss man von dem, was ist“ (AV Edition, Stuttgart. 292 Seiten, 49 Euro). Sobek liefert eine alarmierende Bestandsaufnahme der Rolle des Bauwesens im Klimawandel. Die verbleibenden Handlungskorridore der Menschheit untersucht der zweite Band. Im dritten Band soll es darum gehen, wie sich das Bauschaffen ändern kann und welche gesellschaftlichen Veränderungen hierfür erforderlich sind. Die Erscheinungstermine von Band 2 und 3 stehen noch nicht fest.
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