Selten hat die Schließung eines Cafés in Stuttgart solch eine Entrüstung entfacht wie beim Café Weiß. Die Geschichte klingt aber auch zu gut: auf der einen Seite als strahlender Held Wirt Ranko, auf der anderen als Bösewicht Bernhard Weiß. Dumm nur, dass die Realität damit wenig gemeinsam hat.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Selten hat die angebliche Schließung einer Gastronomie in Stuttgart solch einen Sturm der Entrüstung entfacht wie im Falle des Café Weiß. Reihenweise standen die Autoren Schlange, um in der Stuttgarter Zeitung eine Abschiedseloge zu verfassen. Die vermeintliche Weiß-Schließung war der Fernsehturm-Aufreger der Kneipenszene. Der Rahmen der Handlung war aber auch zu gut: auf der einen Seite der strahlende Held, Wirt Ranko, an dessen fehlendem Nachnamen sich die Institutionalisierung seiner Person bereits zeigt. Auf der anderen Seite der Bösewicht Bernhard Weiß, der den Helden vor die Tür setzt, um das Café, das sein Opa einst gegründet hat, in eine Schickimicki-Klitsche zu verwandeln. Dumm nur, dass die Realität mit der Mythenbildung wie so oft wenig gemeinsam hat.

 

Ortstermin mit Bernhard Weiß vor dem Ort des Schreckens. Die hässliche Fratze der Gentrifizierung hatten wir uns fieser vorgestellt. Weiß ist ein zurückhaltender Mann mit einem Händedruck, der Hände bricht. Der 51-Jährige wägt seine Worte ganz genau ab. Er benutzt Begriffe wie Ehre und Familie und erzählt seine Version der Geschichte bei einer Tasse heißer Schokolade. „Ranko hat mich im vergangenen Jahr angerufen und gesagt, dass er müde ist und nach 40 Jahren nicht mehr kann“, sagt Weiß. „Ich habe diese Entscheidung bedauert, aber akzeptiert.“

Dann nahm die Geschichte eine eigenwillige Wendung. Aus welchem Grund auch immer – Ranko und Weiß haben bis heute kein klärendes Gespräch geführt – spielte Ranko auf einmal den Gekündigten und verkündete via Aushang, dass er das Weiß abgeben müsse. Es folgte ein Lehrstück der Vorverurteilung im Internet: Bernhard Weiß wurde beschimpft, ohne dass er je seine Version der Dinge hätte schildern dürfen. „Plötzlich waren diese ganzen Gerüchte in der Welt, dabei war nie die Rede davon, dass das Café zumacht.“

„Meinem Opa haben wir diesen Mythos zu verdanken“

Selbst mit etwas Abstand merkt man dem ruhigen Mann an, wie sehr ihn das angebliche Vergrätzen des mythisch verklärten Wirts Ranko getroffen hat. „Auf mein Wort kann man sich verlassen. Das Café Weiß wird weitergeführt, ganz im Sinne meines Großvaters und meines Vaters. Dafür sorge ich jetzt mit meiner Frau, und irgendwann werden meine Söhne die Institution weiterführen.“ Weiß lässt bei einem zweiten Glas heißer Schokolade die Ereignisse der letzten Wochen noch einmal Revue passiere. All die Presseanfragen. Das Stadtmuseum, das panisch bei ihm anrief, um sich die Inneneinrichtung des Cafés zu sichern. Die unzähligen Anrufe von Gastronomen, die kurz vor der Schnappatmung standen beim Gedanken, das Weiß künftig führen zu dürfen.

Dabei hatte Heinz Weiß, der das Café von seinem Vater Alois übernommen hatte, seinem Sohn Bernhard verboten, in seine Fußstapfen zu treten. „Das Café hat die Ehe meiner Eltern ruiniert. Nach der Scheidung ist meine Mutter 1968 mit mir in die USA ausgewandert. Meinen Vater und meinen Opa habe ich in den folgenden Jahren nur noch in den Sommerferien gesehen.“

Besonders Alois Weiß hat es Bernhard Weiß angetan. Respektvoll tippt er auf das Foto seines Großvaters, der einst eine Schneiderei in der Oberen Bachstraße geführt hatte, die er 1953 schließlich um einen Schnellimbiss erweiterte, in dem es morgens Kaffee und Kuchen gab und sich abends Homosexuelle zum Tanz treffen konnten. Um es im Duktus der Popkultur zu sagen: die Schneiderei war so etwas wie die erste Off-Location der Stadt, sogar mit angeschlossenem Club, eine fortschrittliche und freigeistige Parallelwelt. „Meinem Opa haben wir diesen Mythos zu verdanken“, sagt Bernhard Weiß, der schließlich selbst zwischen zwei Welten aufgewachsen ist. Auf der einen Seite ein Amerika im Wandel, „zwischen Vietnam, Flower-Power und Sex, Drugs, Rock ’n’ Roll“, so Weiß. Auf der anderen Seite Stuttgart.

Die Familiengeschichte wird fortgeschrieben

In den USA arbeitete sein Stiefvater als Stahlarbeiter. Im Amerika der 70er ein knochenharter Job mit bis zu 16 Stunden Malochen am Stück, der gefürchteten „doubleshift“, wie Bernhard Weiß im lang gezogenen Cowboy-Englisch Amerikas sagt, in das er fällt, wenn er vom Aufwachsen in den USA erzählt. In den großen Ferien tauchte Bernhard Weiß ein in die Welt seines Vaters, durfte Milieustudien im Café betreiben, das 1965 unter dem Namen Kulmbacher Bierstuben/Café Weiß in die Geißstraße zog, staunte über die Prostituierten im Café seines Vaters, die „Mädels“, wie er heute sagt, und genoss unbeschwerte Sommer. 1970 kaufte die Familie das Gebäude schließlich.

Bernhard Weiß studierte dann das Gegenteil von Gastronomie mit leichten Mädchen, nämlich „Banking und Financial Controlling“, bewarb sich um einen Job in Deutschland und wurde zu 20 Vorstellungsgesprächen eingeladen, „weil ich ja dreisprachig bin: Deutsch, Englisch, Schwäbisch“. 1986 trat er seine erste Stelle an, heiratete, wurde Vater von zwei Söhnen. Der eine ist heute 19, der andere 24. Während Weiß seit mehr als 20 Jahren bei SAP arbeitet („Mitarbeiternummer 959!“) hat der jüngste Filius scheinbar das Gastro-Gen der Familie geerbt, „der kann jede Nacht bis 6 Uhr aufbleiben“, sagt Weiß, der sich selbst einen schwäbischen Ami nennt.

Zurück zum Anfang der Geschichte: was sagt der Sturm der Entrüstung zum vermeintlichen Ende des Café Weiß über Stuttgart aus? Die Empörung spiegelt die Unzufriedenheit wider, dass es in dieser Stadt ein Überangebot an Milaneo und Pariser Plätzen gibt, die wie Pforzheimer Plätze aussehen, und eine Unterversorgung an Nischen herrscht, in denen sich echtes Leben findet. Da passt es ja ganz gut, dass Bernhard Weiß seine kleine Parallelwelt am 8. Mai wiedereröffnet. An der Inneneinrichtung wird nichts verändert, lediglich die Toiletten und einige Leitungen werden derzeit modernisiert. Statt Ranko ohne Nachnamen übernehmen künftig Annemarie Imler, die lange mit Heinz Weiß liiert war und bereits früher im Café gearbeitet hat, und Harry Lisson die Betriebsleitung. Die Familiengeschichte geht also weiter: Manchmal taugt die Realität am Ende doch ganz gut zur Mythenbildung.